Franziska Thun-Hohenstein: Ästhetische Distanztechniken bei Schalamow und Brecht
Vortrag im Rahmen der Brecht-Tage 2019 (10.–15.02.2019) im Literatforum im Brecht-Haus Berlin
Warlam Schalamow (1907–1982), dessen »Erzählungen aus Kolyma« über die Geschehnisse in den Lagern am Kältepol der Erde erst in jüngster Zeit die ihnen gebührende Anerkennung fanden, bezieht sich mehrfach auf Brecht. Hinter jeder Nennung steht die Wertschätzung für Brechts Suche nach neuen dramatischen Ausdrucksformen, die das Erkenntnispotential des Theaters in Zeiten der Extreme schärfen. Blickt man auf Schalamows eigene ästhetische Programmatik, so rücken die Positionen beider – jenseits der Frage nach einem direkten Einfluss – in eine bisweilen überraschende Nähe. Zuletzt sichtbar u.a. in der Münchner Inszenierung »Am Kältepol« von Timofej Kuljabin, der Schalamows Erzählungen für die Bühne bearbeitet hat. »Ästhetische Distanztechniken bei Schalamow und Brecht«, so lautet der Titel des Vortrags von Franziska Thun-Hohenstein. Es handelt sich um eine collageartige Spurensuche, die Spannungen aufscheinen lässt und einen Echo-Raum eröffnet: Einerseits geht es um die Tradition des russischen Agitproptheaters »Die blaue Bluse«, für das sich der junge Schalamow in den 1920er Jahren begeisterte und dessen künstlerische Prinzipien Brecht aus seiner Sicht verallgemeinert habe. Andererseits geht es um Schalamows Faszination für Brechts Abkehr vom Theater der Einfühlung, von der Ästhetik des Sozialistischen Realismus, die »den Terror unter dem Erbarmen, die Lagerkälte unter der humanistischen Wärme« versteckte (J. Rancière). Schalamows Bruch mit der herkömmlichen realistischen Literaturtradition geschah vor dem Hintergrund des im Lager Durchlebten. Er suchte nach ästhetischen Distanztechniken, um über den Menschen in einem Raum zu berichten, in dem das »Minimalprogramm der Humanität« (W. Benjamin) außer Kraft gesetzt ist. Die Berührungspunkte zwischen den Denkhaltungen beider sind evident und für die aktuelle Rezeption ihrer Texte (insbesondere Schalamows) jenseits des rein thematischen Moments zu erarbeiten.
Franziska Thun-Hohenstein ist Slawistin, leitet die Forschungsprojekte Batumi, Odessa, Trabzon. Kulturelle Semantik des Schwarzen Meeres aus der Perspektive östlicher Hafenstädte und Warlam Schalamow. Biographie und Poetik und ist Herausgeberin der Warlam Schalamow-Edition.