Freundschaftsbriefe im 20. Jahrhundert
»Soll ich Ihnen danken? In welcher Form? Um wieviel leichter könnte ich einen ganzen Roman erfinden, als die würdige und herzliche Art treffen, meine Dankbarkeit auszusprechen. Wo hatte ich je einen solchen Freund, wie Sie es sind?« Dies schrieb der Schriftsteller Joseph Roth im Juli 1934 aus Marseille an Stefan Zweig, der ihn in den unsicheren ersten Monaten der Emigration umfassend unterstützte. In diesem Brief suchte Roth nicht nur nach Worten des Danks, sondern auch nach einem treffenden Bild, das die ungleiche Freundschaft mit dem berühmten Kollegen zu fassen vermochte – und er wählte die markante Metapher »eines Kahns auf offenem Meer, der einem Dampfer begegnet«. Es gehört zur Pointe des Briefs und auch zur Besonderheit seines Verfassers, dass Roth das Nebeneinander dieser so ungleich erscheinenden Freundschafts-Boote sogleich ausdeutet. Er zog aus dem Vergleich nicht nur den naheliegenden Schluss, dass es für den kleinen Kahn schwieriger sei, »diese Freundschaft zu tragen«, sondern überraschenderweise auch die umgekehrte Wertung: für die soziale Konstellation mag das Verhältnis von Gebendem und Empfangendem eindeutig sein, nicht aber für die Idee der Freundschaft; hier ist es auch der Schuldner, der das Gewicht der Freundschaft gleichberechtigt mitträgt, auf dem sie sozusagen ganz unmittelbar ruht.
Dieser Ausschnitt aus einer einzigen Korrespondenz in den aufgewühlten Zeitläufen Mitte des 20. Jahrhunderts verweist nicht nur auf die besondere Funktion und Notwendigkeit von Briefen zwischen Freundinnen und Freunden, sondern auch auf die vielen Paradoxien, die sie zu einem Erkenntnisinstrument machen: Wer treibt an, wer bremst? Wer gibt und wer nimmt? Wer trägt, wer wird getragen? Wieviel Nähe, wieviel Offenheit und Ehrlichkeit und wieviel Kritik hat in diesen Briefgesprächen Platz? Neben Gemeinsamkeiten und Sympathien: Wie werden Unterschiede und Dissens zum Thema? Freundschaftsbriefe sind immer Dokumente einer Beziehung, die nicht durch die Geburt vorgegeben wird, sondern die selbstgewählt ist: So ist Freundschaft – durch Briefe ausgedrückt und in Briefen beschworen – immer schon ein Akt der Souveränität, ganz unabhängig von den Inhalten, die in Briefen zum Ausdruck kommen. Ein Gespräch wird verlangsamt durch Briefe, in ihnen nimmt Freundschaft als »eine Form der Heimat« (Philipp Lenhard) Gestalt an. Dem Austausch zwischen Roth und Zweig, ein Klassiker des Genres, lassen sich viele weitere Beispiele an die Seite stellen, man denke nur an das umfassende Briefwerk Hannah Arendts, in dem Freundschaftsbriefe der größte Teil sind.
Programm
10.15 Begrüßung und Eröffnung
- Eva Geulen (ZfL), Yfaat Weiss (DI)
- Falko Schmieder (ZfL), Nicolas Berg (DI)
10.30 Die Erfahrung des Exils
- Felix Steilen (DI): Der Blick zurück nach Europa: Beobachtungen zu einer brieflichen Konfiguration der 1930er Jahre
- Christoph Hesse (ZfL): »Über den Ozean ausgestreckte Hand. Tut sehr gut …«: Freunde auf der Flucht – Hermann Borchardt und George Grosz
13.30 Literatur und Wissenschaft
- Zahiye Kundos (DI): The Journal as Letterbox: Contesting the Spirit of Modern Arabic Literature in 1933
- Magdalena Gronau, Martin Gronau (ZfL): »Eine Mischung von saugrob und zärtlich«: Gelehrte Kritik in Korrespondenzen von befreundeten Physikern im Exil
15.45 Aufbruch ins Neue
- John de Lima (DI): Pseudonyme Autorschaft in Franz Rosenzweigs Freundschaftsbriefen
- Zaal Andronikashvili (ZfL): Louis Althusser und Merab Mamardashvili: Freundschaft und Ideologie diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs