100 Jahre Lenin: Lenin bei Lukács und bei Bogdanov
Vorträge von Rüdiger Dannemann und Luise Meier und Gespräch in der Reihe »Vielfalt sozialistischen Denkens« im Helle Panke e.V., Moderation: Patrick Eiden-Offe
Für Gerhard Stapelfeldt und nicht wenige andere Linke ist Lenin heute ein (ökonomistischer) marxistischer Dogmatiker, der »nicht nur zum Robespierre der proletarischen Revolution, sondern auch zum Wegbereiter« Stalins wurde. Wie kommt es dann, dass sich Georg Lukács, dessen Werk Geschichte und Klassenbewusstsein für den Westlichen Marxismus und auch die Kritische Theorie einlussreich wurde, ganz anders als die führenden Köpfe dieser Kritischen Theorie ein Leben lang für Lenin interessiert hat, ihn gar für den bedeutendsten Marxisten des 20. Jahrhunderts hielt?
Anlässlich des 100. Todestags sowie der 100-jährigen Wiederkehr von Lukács’ intellektuellem Porträt des russischen Revolutionärs, das unter dem schlichten Titel Lenin 1924 kurz nach Lenins Tod erschien, lohnt sich der Blick auf das sehr eigenwillige Lenin-Bild des ungarischen Philosophen. Seine kleine Lenin-Studie wurde von August Thalheimer als »überflüssiges Buch« kritisiert, von Karl Korsch nachdrücklich verteidigt. Im Vortrag geht Rüdiger Dannemann der Frage nach, welche Stärken Lukács an Person und Werk des »Volkstribunen« und Meisters »revolutionärer Realpolitik« ausmacht – in den zwanziger Jahren und darüber hinaus bis hin zur erst postum publizierten Demokratisierungsschrift. Das kann ein Beitrag dazu sein, mit Lukács »Lenin neu zu entdecken« (Michael Brie), aber auch anhand seiner Lenin-Rezeption Lukács’ eigene philosophische und politische Position genauer zu bestimmen.
Luise Meier wird Lenin mit einer anderen großen Figur der damaligen Zeit konfrontieren: Aleksandr Bogdanov. Über hundert Jahre lang wurde der Bolschewist, Arzt, Science-Fiction-Autor, Philosoph, Protokybernetiker und Mitbegründer des Proletkult Alexander Bogdanov vor allem als Gegenspieler Lenins wahrgenommen. Er unterlag als solcher mehrfach in den Kämpfen um die SDAPR bzw. die Bolschewiki und um die Kultur-, Bildungs-, Wissenschafts- und Wirtschaftspolitik der frühen Sowjetunion. Bogdanov wurde nicht nur 1909 auf Lenins Betreiben hin aus der Partei ausgeschlossen und nach 1917 zunehmend isoliert, seine Ideen wurden auch, wo sie von anderen Freunden und Weggefährten Lenins und Bogdanovs aufgegriffen und weiterentwickelt wurden, bekämpft (u.a. von Lunatscharski und Bukharin).
Wer mit Bogdanov nicht durch seine Science-Fiction Bestseller Der rote Planet/Stern (1908) und Ingenieur Menni (1913) in Berührung kam, der las ihn lange Zeit hauptsächlich gründlich entstellt durch die Brille der Polemik in Lenins Buch Materialismus und Empiriokritizismus. 100 Jahre später lässt sich vielleicht umgekehrt durch die Brille des unliebsamen Ex-Genossen gesehen fragen, was der große Lenin, der doch den Sozialismus, anders als der marxistisch-machistische Organisationswissenschaftler Bogdanov, nach dem preußisch-bürokratischen Vorbild der deutschen Post organisieren wollte, an kommunistischen Träumen wegorganisiert hat. Welche Fäden hätte Lenin vielleicht besser aufgenommen und weitergesponnen, anstatt sie wie Staubflusen herauszukehren oder wie Kinderkrankheiten auszukurieren? Vom Trümmerhaufen der Geschichte aus, unter dem Aussortierte wie Bogdanov begraben liegen, gilt es einen Blick zurück zu werfen auf Lenin, den Revolutionär und Staatsmann, der in einem mit 350 Stahlbetonpfählen gesicherten Mausoleum hinter Panzerglas dem Schicksal der Materie trotzt …
Kosten: 2 Euro
Rüdiger Dannemann ist Vorsitzender der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft und Herausgeber des Lukács-Jahrbuchs sowie der Lukács-Werkausgabe in Einzelbänden. Aktuelle Veröffentlichungen: Ästhetik, Marxismus, Ontologie. Ausgewählte Texte, 2021 (zus. mit Axel Honneth); Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein. Faksimile des Arbeitsexemplars. Mit Transkriptionen und Erläuterungen der Lukács-Marginalien von Rüdiger Dannemann, 2023; Georg Lukács: Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins. Die Entfremdung, 2024.
Luise Meier ist freie Autorin, Theatermacherin, Dramaturgin und Performerin. 2018 erschien bei Matthes & Seitz Berlin ihr Buch MRX Maschine. Derzeit arbeitet Luise Meier an dem Essay »Proletkult vs. neoliberale Denkpanzer« sowie an einem utopischen Near-Future/Science-Fiction-Romanprojekt, das 2024 erscheinen wird.
Der Germanist Patrick Eiden-Offe arbeitet auf einer Heisenberg-Stelle an dem Projekt Georg Lukács: eine intellektuelle Biographie und leitet das Projekt Kartographie des politischen Romans in Europa.