Theoriegeschichte und jüdische Geschichte
Gemeinsamer Workshop des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur, Leipzig (DI) und des Zentrums für Literatur und Kulturforschung, Berlin (ZfL)
Im Herbst 1913 fasste der siebenundzwanzigjährige Arnold Zweig in einem Brief an Martin Buber die eigene Selbst- und Weltwahrnehmung wie folgt in Worte: »Für den Augenblick bin ich sehr theoretisch, sehr essayistisch, sehr jüdisch gestimmt.« In der unerwarteten Reihung brachte Zweig eine Affinität zum Ausdruck, die die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Workshops auf doppelte Weise zu erkunden versuchen: Was »Theorie« bedeutet und was »jüdisch« heißt, ist jeweils nicht als feste Größe zu verstehen, sondern als Problem, das jeweils neu – und fallweise dann auch: »essayistisch« – zu bestimmen ist. In besonderer Weise gilt das für die Frage der Historisierung: Denn wie sich »jüdische Geschichte« nicht nur schon lange dem dominanten Paradigma einer Nationalgeschichte entzieht, sondern auch auf ganz verschiedene Weise erzählen lässt – als Sozial-, Religion-, Kultur-, Wissensgeschichte etc., als Geschichte des Exils, der Akkulturation oder der Rückkehr –, so erweist sich auch die Geschichte der Theorie als Problem, weil sie sich nicht in der Geschichte wissenschaftlicher Disziplinen erschöpft und zwischen verschiedenen – ideengeschichtlichen, wissenssoziologischen, begriffs- und diskursgeschichtlichen etc. – Zugriffen changiert.
Dass jüdische Autoren in der Geschichte der Theoriebildung eine zentrale Rolle gespielt haben, ist schon oft bemerkt worden, genannt seien exemplarisch Moritz Lazarus und Heymann Steinthal, Georg Simmel, Sigmund Freud, Karl Mannheim, Ludwik Fleck, Walter Benjamin, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Hannah Arendt. Der Workshop versucht dabei über dieses Faktum heraus, die Problematik der Theoriegeschichte und die komplexe Auffassung der diasporischen Geschichte der Juden in der Moderne aufeinander zu beziehen und zu fragen, wie etwa – stets komplexe und oft spezifische! – kulturelle Zugehörigkeiten zum Judentum in die Historisierung der Theorie einzubeziehen sind, wie aber auch die Reflexion dieser Zugehörigkeiten sich der Sprache der Theorie bedient oder in ihr mitzulesen ist. Wie reflektieren sich jüdische Erfahrungen in der Theorie – oder wie werden sie auch gerade ausgeschlossen und blind gemacht? Welche Figuren des Judentums werden in der Theorie aufgegriffen, welche werden affirmiert, welche negiert und abgestoßen? Wie drücken sich diese Formen in der Schreibweise der Theorie aus, in Rhetorik, Topoi und Metaphern – etwa dem ›Exil‹, das in Theorien der Moderne oft eine Rolle spielt und selbst mehr oder wenig deutlich religiös figuriert werden kann, aber auch gerade für eine entzauberte Welt stehen kann?
Der Workshop bringt mit dem ZfL und dem DI zwei Institutionen zusammen, die einander durch vielfältige Forschungsinteressen und -fragen nahestehen. Dazu zählt nicht zuletzt das Interesse vieler Projekte und Vorhaben beider Institute, ›Theorie‹ umfassend als reflexive Haltung zur Welt und als eigenständige Denk- und Ausdrucksform der Moderne zu konzeptualisieren; sowie die Suche nach alternativen Beschreibungen der Moderne: Sei es, dass aus der jüdischen Perspektive das christliche Säkularisierungsnarrativ in ein anderes Licht gerückt wird, sei es dass neue Kontextualisierungen und Lektüren bekannte Konstellationen in ein neues Licht rücken.
Programm
Um Anmeldung (nur für den Workshop erforderlich) per Email wird bis zum 07.02.2017 gebeten.
10.15
- Raphael Gross (DI), Eva Geulen (ZfL): Begrüßung
- Nicolas Berg (DI), Daniel Weidner (ZfL): Einführung und Moderation
Panel I: Begriffe und Konzepte
10.30
- Jan Gerber (DI): Karl Marx in Paris. Die Entdeckung der Klasse
- Ernst Müller (ZfL): »Latenzzeit von Begriffen«. Lazar Gulkowitsch und seine Begriffsgeschichte des jüdischen Geistes
12.15
- Elisabeth Gallas (DI): Begriffsbildung nach der Katastrophe. Netzwerke jüdischer Intellektueller in New York
Panel II: Texte und Diskurse
14.15
- Mona Körte (ZfL): »methodisch – unmethodisch«. Zum Status des Versuchs in Arnold Zweigs Essays
- Daniel Weidner (ZfL): Hinterlassenschaft und neue Generation. Georg Simmels Schüler
16.00
- Nicolas Berg (DI): »Goethe« als Theorietext des deutschen Judentums
17.00–18.45 Buchvorstellung
In Anwesenheit der Autoren Ernst Müller, Falko Schmieder (beide ZfL):
Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium (stw 2117). Berlin: Suhrkamp Verlag 2016