Verwalten – verwerten – vernichten. Kulturpoetische Formationen des Abfalls seit 1930
Tiefgreifender könnte der Wandel institutioneller und sozialstruktureller Rahmenbedingungen des gesellschaftlichen Umgangs mit Abfall kaum sein als er für die Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gewöhnlich konstatiert wird. Was in den 1930er Jahren die NS-Wirtschaftspolitik zum verwertbaren Rohstoff erklärt, geht in der seit den 1950er Jahren zunehmend schwieriger zu bewältigenden ›Flut von Abfällen‹ unter und wird in den Folgejahrzehnten zum umweltpolitisch schwer handhabbaren, dafür umso dringlicher zu lösenden Problem. Der ökonomische Aufschwung und die beschleunigte Entwicklung der Massenkonsumgesellschaft erzeugen eine »Müll-Lawine«, in die heute dringliche Fragen wie die Endlagerung des Atommülls, der Export von Elektroschrott nach Afrika oder die Verschmutzung der Meere durch Plastikabfall noch gar nicht eingerechnet sind.
Die Tagung setzt an dieser Stelle an und interessiert sich für die an die institutionellen Praktiken des Umgangs mit Abfall geknüpften Diskurse und deren Verflechtungen ins literarisch-kulturelle Feld. Die Beiträge fragen nach den Darstellungsverfahren und Schreibweisen, die die literarische wie kulturelle Beschäftigung mit Abfall seit den 1930er Jahren bestimmen, und nach der Funktion, der der Bezug auf nicht mehr gebrauchte Materialitäten in literarischen Programmen und kulturellen Diskursen zukommt. In welchen Hinsichten ergeben sich Kontinuitäten und Diskontinuitäten der literarisch-kulturellen Abfallgeschichte in Deutschland seit den 1930er Jahren und über die Epochenschwelle »1945« hinweg?
Die Tagung wird gefördert durch die Fritz Thyssen Stiftung.
Programm
Freitag, 15.11.2019
9.30–9.45
Begrüßung und Einführung durch die Veranstalter: Kulturpoetische Formationen des Abfalls seit 1930
9.45–11.15
- David-Christopher Assmann (Frankfurt): Müll in illustrierten Zeitschriften der 1930er Jahre
- Jörg Schuster (Frankfurt): Abfall in der deutschen Literatur der 1930er Jahre – zwischen NS-Ideologie und Magischem Realismus
11.45–13.15
- Burkhard Schäfer (Ulm): Revision der Ruderalfläche
- Roman Köster (München): Die Grenzen der Hygiene: Öffentliche Mülldiskurse in Westdeutschland nach 1945
14.45–16.15
- Jonas Nesselhauf (Saarbrücken): Dicke Luft auf Kanal 1. Wolfgang Petersens Smog (1973) und die deutsche Umweltbewegung der 1970er Jahre
- Lucie Taïeb (Brest): Zerstörte Landschaften als Geschichtslandschaften. Abfallsymbolik und Zeiterfahrung bei Wolfgang Hilbig (Die Kunde von den Bäumen, Alte Abdeckerei)
16.45–18.15
- Lis Hansen (Münster): Welt und Wohnungen voller Müll. Abfall und oikos in der Gegenwartsliteratur
- Uta Kornmeier (Berlin): Das Messie-Phänomen erzählen
18.30 – Abendvortrag
Moritz Baßler (Münster): „Sorry Ma, Forgot to Take Out the Trash“
Samstag, 16.11.2019
9.30–11.00
- Claudia Schmitt (Saarbrücken): „Das kann man doch nicht wegwerfen“ vs. „Die bunte Welt des Abfalls“ – Müllrituale in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur aus ökokritischer Sicht
- Laura Moisi (Berlin): Ambivalenzen des Abfalls in Antonia Baums Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte mich von Radkappen und Stoßstangen zu ernähren (2015)
11.30–13.00
- Matthias Preuss (Bochum): Überleben in der Abflussgesellschaft. Zur politischen Ökologie der Abfälle: Lutz Seilers Roman Kruso (2014)
- Markus Engelns (Duisburg-Essen): Ängste vor der digitalen (Un)Ordnung ‒ Zur Müllentsorgung in Computerspielen
14.30–16.00
- Solvejg Nitzke (Dresden): Der Müllplanet. Ein ökologisches Narrativ zwischen Equilibrium und Verausgabung
- Eva Murasov (Berlin): Totale Selbstregulierung und Ästhetik der Glätte. Restloses Erzählen in Leif Randts Planet Magnon
Siehe auch:
Falko Schmieder: Über den Abfall des Menschen, in: ZfL Blog, 30.10.2019