Workshop
23.02.2018 · 10.00 Uhr

Zeitbeobachter. Beschreibungen der Gegenwart in der Moderne

Ort: ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, 3. Et., Trajekte-Tagungsraum
Kontakt: Nicolas Berg (DI), Daniel Weidner (ZfL)

Gemeinsamer Workshop des Leibniz-Instituts für Jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow Leipzig (DI) und des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung (ZfL)

Als »Zeitschriftsteller« bezeichnete Ludwig Börne 1818 den Publizisten und damit sich selbst: Eine Zeitschrift sei ein »Tagebuch der Zeit« und müsse gerade das schlechthin Ephemere, die wechselnden öffentlichen Meinungen notieren; sie könne nicht das schwere Gold ewiger Wahrheiten bieten, versorge ihre Leser aber mit dem »ausgemünzten Wissen«, das für den »Wechselverkehr« zwischen Leben und Wissenschaft notwendig sei. Es sind Medien der Großstadt, die für Börne ihrerseits Ort der Aktualität sind, »der Telegraph der Vergangenheit, das Mikroskop der Gegenwart und das Fernrohr der Zukunft«. Der Journalist als Zeitbeobachter verliert seinen kontemplativen Ort, ist nicht mehr »Geschichtsschreiber«, sondern »Geschichtstreiber«.
Diese Figur des Zeitbeobachters denkt ein neues, unmittelbares, aber auch prekäres Verhältnis zur Zeit – und dies in einem doppelten Wortsinne: Der Zeitbeobachter beobachtet die Gegenwart, er steht aber auch in ihr, wird zu ihrem Sprachrohr und liefert sich ihr somit auch aus. In beiden Formen wird er eine zentrale Figur für die Literatur am »Funktionsübergang von Dichtung und Publizistik« (Wolfgang Preisendanz). Dies bleibt auch für das 20. Jahrhundert wichtig, in dem die immer stärker politisierte Erfahrung von »Zeitverkürzung« und »Beschleunigung« (Reinhart Koselleck) zu artikulieren und denkerisch zu verarbeiten ist. Unter Rückgriff auf vormoderne Formen wie die Chronik und deren modernisiertes Format der vermischten Nachrichten, wird die Geschwindigkeit der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen professionell in den Blick genommen: in der Tageszeitung, speziell in Glosse und Essay, Feuilleton und Kommentar, in der Fotoreportage und im offenen Brief, der als direkte politische Intervention jenseits von Herrschaftstraditionen und -hierarchien fungiert.
Zeitgenossenschaft als Problem, Zeitzeugenschaft als Perspektive und Augenzeugenschaft als Teil des Nachrichtenzusammenhangs – sie schärfen unseren Blick auch auf theoretische Kategorien, auf Geschichtsphilosophie und Zeitgeschichte. Dabei etablieren sich nicht nur neue Textformen, sondern es verändern sich auch die traditionellen von Lyrik und Essay, Roman und Autobiografie. Für die historische Betrachtung stellen diese gleichzeitig eine wichtige Quelle wie eine Herausforderung dar: Denn sie zeigen zwar die Reaktionen auf die Moderne in actu, aber verlangen auch oft aufwendige Kontextualisierung; sie rufen nach Historisierung, die aber stets droht, das akute Moment in ihnen ruhigzustellen.

Der Workshop ist Teil der Reihe Jüdische Geschichte und Literaturforschung, die das ZfL zusammen mit dem Dubnow-Institut durchführt.

Programm

10.00–10.30
Begrüßung und Einführung

10.30–12.30


  • Enrico Lucca (DI): Out of Time, out of Place. Discussing Franz Rosenzweig’s Actuality in Mandatory Palestine (1936–1946)
  • Barbara Picht (ZfL): Zeitbeobachtung und Perspektivwechsel im 20. Jahrhundert. Czesław Miłosz

13.30–15.30

  • Inka Sauter (DI): Frühjahr 1940. Erfahrungsschichten in Walter Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen
  • Falko Schmieder (ZfL): Zeitgemäß unzeitgemäß. Adornos historische Gegenwartsbestimmungen

16.00–18.00

  • Aurelia Kalisky (ZfL): Zeitverdichtung. Anekdoten- und Gedichtsammlungen aus den Ghettos während des Holocaust
  • Dagi Knellessen (DI): Paradoxien der Zeugenschaft. Jüdische Überlebende in deutschen Holocaustprozessen