Konferenz
09.02.2006 – 11.02.2006 · 01.00 Uhr

Zwischen »Vererbung erworbener Eigenschaften« und Epigenetik

Ort: Ruine des Rudolf-Virchow-Hörsaals im Berliner Medizinhistorischen Museum der Charité, Schumannstr. 20/21, 10117 Berlin

Programm

Eine der fundamentalen Figurationen der modernen Kultur ist die Unterscheidung zwischen Erworbenem und Ererbtem – eine Unterscheidung, die nicht erst mit der biologischen Kontroverse um vererbte und erworbene Eigenschaften auftrat, sondern schon um 1800 in verschiedenen Wissensgebieten thematisiert wurde. Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Differenzierung zwischen erworbenen und vererbten Eigenschaften erstmals systematisch vorgenommen und dominierte seitdem die biologische, soziale und kulturelle Vorstellungswelt – oft schematisch tradiert unter dem Titel eines Streits zwischen Lamarckismus und Darwinismus. Mit dem Verdikt gegen den sogenannten Lamarckismus war die Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften im genetischen Zeitalter weitgehend tabuisiert. Eine erneute Aktualität und Forschungsbrisanz gewann das Thema erst jüngst mit der Wiederentdeckung komplexer 'epigenetischer Erbprozesse' durch die Lebenswissenschaften – d.h. solcher Vererbungsprozesse, die nicht auf die Übertragung von DNA zurückgeführt werden können, sondern dieser nachgelagert sind, also epi-genetische Phänomene betreffen.
Die Tagung zielt darauf, die Genese der so eminenten Differenzierung zwischen 'vererbt' und 'erworben' zu erörtern und die Wege, auf denen sie zu einer der zentralen epistemischen Paradigmen des abendländischen Denkens avancierte, zu erkunden. Sie versammelt Experten der Lebenswissenschaften, Wissenschaftshistoriker und Kulturwissenschaftler.

So soll die Biologie der Vererbung auf explizite und implizite Motive der Vererbung erworbener Dispositionen bzw. Merkmale hin untersucht werden. Wenn man – wie das heute viele Biowissenschaftler tun – annimmt, daß epigenetische Vererbungsprozesse Teil der natürlichen Physiologie der Reproduktion sind, dann stellt sich die Frage, mit welchen Mechanismen es der Epoche der Mendelschen Genetik und der Molekularbiologie möglich war, diese Phänomene aus dem biologischen Diskurs auszuschließen. Auf welche Weise wurden während der Geltung des 'zentralen Dogmas' der Molekularbiologie, der Ausschließlichkeit genetischer Vererbung, epigenetische Effekte unterdrückt? Wo und auf welche Weise kam ein verborgenes Wissen epigenetischer Vorgänge zum Ausdruck? Vor dem Hintergrund solcher Fragestellungen gehen die Tagungsbeiträge der Entwicklung der Epigenetics in den letzten 60 Jahren nach, rekonstruieren die wissenschaftshistorische Vorzeit dieses aktuellen Paradigmas und befragen die Dynamik, die zur Wiederkehr und Stabilisierung der epigenetischen Perspektive auf Vererbungsvorgänge in den beiden vergangenen Jahrzehnten geführt hat.
In einem kulturgeschichtlich weiter ausgreifenden Horizont gilt es, die Differenz und Verknüpfung von Vererbung und Erwerbung als eine Figuration zu untersuchen, die nicht nur die Biologie betrifft, sondern auch in psychologischen und sozialen Ideen, in pädagogischen Theorien und in der Literatur verhandelt wird. Damit rücken auch jene kulturellen Gefüge in den Blick, in denen Eigenschaften, Generationen und Übertragungswege als Bestandteile der epigenetischen Theoriebildung allererst konstituiert werden, – das heißt die Frage, wo und in welcher Weise kulturelle Aspekte in lebenswissenschaftlichen Modellen zum Zuge kommen. Denn die Vererbung von Erwobenem kann als Eintrittstor der 'Kultur' in die 'natürliche Reproduktion' gelten.

Mit Beiträgen von: Elena Aronova (Moskau), Henri Atlan (Paris), Irun Cohen (Rehovot/Israel), Evelyn Fox Keller (Cambridge/USA), Eva Jablonka (Tel Aviv), Richard A. Jorgensen (Tucson/USA), Marion Lamb (London), Michel Morange (Paris), Eörs Szathmáry (Budapest)

Medienecho

20.02.2006
Die Kultur mischt mit

Wissenschaftler plädieren für ein erweitertes Verständnis von Genetik. Beitrag von Peter Düweke, in: Tagesspiegel vom 20.2.2006

16.02.2006
Das Puzzle des Lebens

Epigenetische Marker und die Pfade der Vererbung. Beitrag von Isabelle Bareither, in: scienzz.com vom 16.2.2006

15.02.2006
Vererbung jenseits der Gene

Eigener Lebensstil prägt die Lebenserwartung der Kinder und Enkel. Beitrag von Sonja Kastilan, in: Die Welt vom 15.2.2006

10.02.2006
Vererbt oder erworben?

Epigenetiker diskutieren klassische Streitfragen. Ein Beitrag von Volkart Wildermuth, in: Deutschlandfunk, Sendung: Forschung Aktuell vom 10.2.2006, 16:25 Uhr