Zwischen »Vererbung erworbener Eigenschaften« und Epigenetik
Programm
Eine der fundamentalen Figurationen der modernen Kultur ist die Unterscheidung zwischen Erworbenem und Ererbtem
– eine Unterscheidung, die nicht erst mit der biologischen Kontroverse
um vererbte und erworbene Eigenschaften auftrat, sondern schon um 1800
in verschiedenen Wissensgebieten thematisiert wurde. Gegen Mitte des 19.
Jahrhunderts wurde die Differenzierung zwischen erworbenen und vererbten Eigenschaften
erstmals systematisch vorgenommen und dominierte seitdem die
biologische, soziale und kulturelle Vorstellungswelt – oft schematisch
tradiert unter dem Titel eines Streits zwischen Lamarckismus und
Darwinismus. Mit dem Verdikt gegen den sogenannten Lamarckismus war die
Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften im genetischen
Zeitalter weitgehend tabuisiert. Eine erneute Aktualität und
Forschungsbrisanz gewann das Thema erst jüngst mit der Wiederentdeckung
komplexer 'epigenetischer Erbprozesse' durch die Lebenswissenschaften –
d.h. solcher Vererbungsprozesse, die nicht auf die Übertragung von DNA
zurückgeführt werden können, sondern dieser nachgelagert sind, also
epi-genetische Phänomene betreffen.
Die Tagung zielt darauf, die
Genese der so eminenten Differenzierung zwischen 'vererbt' und
'erworben' zu erörtern und die Wege, auf denen sie zu einer der
zentralen epistemischen Paradigmen des abendländischen Denkens
avancierte, zu erkunden. Sie versammelt Experten der
Lebenswissenschaften, Wissenschaftshistoriker und Kulturwissenschaftler.
So
soll die Biologie der Vererbung auf explizite und implizite Motive der
Vererbung erworbener Dispositionen bzw. Merkmale hin untersucht werden.
Wenn man – wie das heute viele Biowissenschaftler tun – annimmt, daß
epigenetische Vererbungsprozesse Teil der natürlichen Physiologie der
Reproduktion sind, dann stellt sich die Frage, mit welchen Mechanismen
es der Epoche der Mendelschen Genetik und der Molekularbiologie möglich
war, diese Phänomene aus dem biologischen Diskurs auszuschließen. Auf
welche Weise wurden während der Geltung des 'zentralen Dogmas' der
Molekularbiologie, der Ausschließlichkeit genetischer Vererbung,
epigenetische Effekte unterdrückt? Wo und auf welche Weise kam ein
verborgenes Wissen epigenetischer Vorgänge zum Ausdruck? Vor dem
Hintergrund solcher Fragestellungen gehen die Tagungsbeiträge der
Entwicklung der Epigenetics in den letzten 60 Jahren nach,
rekonstruieren die wissenschaftshistorische Vorzeit dieses aktuellen
Paradigmas und befragen die Dynamik, die zur Wiederkehr und
Stabilisierung der epigenetischen Perspektive auf Vererbungsvorgänge in
den beiden vergangenen Jahrzehnten geführt hat.
In einem kulturgeschichtlich weiter ausgreifenden Horizont gilt es, die Differenz und Verknüpfung von Vererbung und Erwerbung
als eine Figuration zu untersuchen, die nicht nur die Biologie
betrifft, sondern auch in psychologischen und sozialen Ideen, in
pädagogischen Theorien und in der Literatur verhandelt wird. Damit
rücken auch jene kulturellen Gefüge in den Blick, in denen
Eigenschaften, Generationen und Übertragungswege als Bestandteile der
epigenetischen Theoriebildung allererst konstituiert werden, – das heißt
die Frage, wo und in welcher Weise kulturelle Aspekte in
lebenswissenschaftlichen Modellen zum Zuge kommen. Denn die Vererbung
von Erwobenem kann als Eintrittstor der 'Kultur' in die 'natürliche
Reproduktion' gelten.
Mit Beiträgen von: Elena Aronova (Moskau),
Henri Atlan (Paris), Irun Cohen (Rehovot/Israel), Evelyn Fox Keller
(Cambridge/USA), Eva Jablonka (Tel Aviv), Richard A. Jorgensen
(Tucson/USA), Marion Lamb (London), Michel Morange (Paris), Eörs
Szathmáry (Budapest)