Wissenspraktiken. Bilder in der Geschichte der experimentellen und angewandten Lebenswissenschaften
Im Projekt wurde der Einsatz von Bildern in der Wahrnehmungsforschung untersucht. Dabei waren die Überlegungen leitend, dass Bilder (wie Reizbilder, Modellbilder oder Testbilder) einen entscheidenden Anteil an der Entstehung von Wissen haben, dass sie als Vermittler zwischen Experimentalpraxis und Theoriegewinnung agieren und dass sie weit über den wissenschaftlichen Raum hinaus wirken (etwa wenn sie von Künstlern anverwandelt werden). Ziel war es – im Sinne der historischen Epistemologie – die Ausbreitung des mithilfe von Bildern gewonnenen Wissens nachzuvollziehen und seine medialen, politischen und sozialen Implikationen in den Blick zu bekommen. Ein besonderes Augenmerk wurde auf die Ästhetik des Wissens gelegt, zugleich perspektivierte das Projekt die Voraussetzungen einer aktuellen Konjunktur empirischer Ästhetik.
Der Frage nach der epistemischen Funktion von Bildern wurde an zwei Fallbeispielen aus der Wahrnehmungsforschung des 19. Jahrhunderts nachgegangen:
- Margarete Vöhringer: Augenspiegelbilder. Zur Sichtbarmachung des Sehens
- Jana August: Optische Täuschungen. Wissensgeschichte und Bildpraxis der Wahrnehmungsforschung
Teilprojekte
Augenspiegelbilder. Zur Sichtbarmachung des Sehens
Das Projekt war mit dem Ziel einer materiellen Kultur der Wahrnehmungsforschung konzipiert. Im Mittelpunkt stand Hermann von Helmholtz’ Erfindung des Augenspiegels, seine Anwendung in der Augenheilkunde und seine Wirkung über die Wissenschaften hinaus in Kunst und Kunsttheorie. Das Material befindet sich in dem nahezu unberührten Nachlass des Augenarztes Albrecht von Graefe am Berliner Medizinhistorischen Museum.
Das Projekt hatte die Bilder zum Gegenstand, die mit dem Augenspiegel angefertigt wurden: Ausgehend vom ersten Atlas für Ophthalmoskopie, den Helmholtz’ Assistent Richard Liebreich entwickelte, um Augenärzte im Erkennen von Krankheiten zu schulen, lässt sich die Nutzung von Augenhintergrundbildern vom wissenschaftlichen Labor bis an die National Gallery in London und die École des Beaux-Arts in Paris nachvollziehen. Das Projekt versuchte, das Verhältnis von Theorie und Praxis – hier konkret von Wahrnehmungslehre, Augenheilkunde und Kunst – anhand der Bilder neu zu fassen.
Abb.: Aquarell-Zeichnung eines Augenhintergrundes, angefertigt vom Augenarzt Otto Becker (aus der Albrecht von Graefe-Sammlung der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft, Dauerleihgabe am Berliner Medizinhistorischen Museum der Charité)
Optische Täuschungen. Wissensgeschichte und Bildpraxis der Wahrnehmungsforschung
In der experimentellen Erforschung des Sehens kommt den optischen Täuschungen im 19. Jahrhundert eine besondere Rolle zu. Einerseits thematisierten diese Phänomene als Illusionen von Farb-, Form- oder Bewegungswahrnehmungen in besonderem Maße die Subjektivität der Erkenntnis, indem sie auf die physiologischen wie psychologischen Bedingungen von Wahrnehmung verwiesen. Andererseits entstanden zur Erforschung optischer Täuschungen eine Reihe von Mess- und Untersuchungsverfahren, die unter Einsatz speziell entwickelter Testbilder die wissenschaftliche Beschreibung visueller Erkenntnis ermöglichten. In den Schriften beispielsweise von Hermann von Helmholtz, Wilhelm Wundt und Max Wertheimer sind die Ergebnisse dieser Laborexperimente mit Bildern theoretisch ausformuliert worden. Wie das Verhältnis von Bildpraxis und Theoriebildung in der Erforschung des Sehens zu bestimmen ist, untersuchte das Projekt am Beispiel diverser Testbilder optischer Täuschungen.
Publikationen
Margarete Vöhringer
- Der Augenspiegel. Sehen und Gesehen werden im 19. Jahrhundert, in: Beate Ochsner, Robert Stock (Hg.): senseAbility – Mediale Praktiken des Sehens und Hörens. Bielefeld: transcript 2016, 45–58
- »Fakty w tysjatschi raz waschnee slow«. Fiksatsija Eksperimentow w Fiziologii, Literature i Fotografii [dt.: »Tatsachen sind tausendmal wichtiger als Worte« – Ein experimentelles Aufschreibeverfahren in Physiologie, Literatur und Photographie], in: Georgii Vekshin (Hg.): Wtoroj Brikowski Sbornik. Metodologija i Praktika Russkogo Formalizma [dt.: Zweiter Brik Sammelband. Methoden und Praktiken des Russischen Formalismus]. Moskau 2014, 265–279
- Praktiken, in: Roland Borgards, Harald Neumeyer, Nicolas Pethes, Yvonne Wübben (Hg.): Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: J. B. Metzler 2013, 45–49
Veranstaltungen
Das Wissen vom Auge. Wahrnehmungsgeschichte und Bildpraxis
ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, Seminarraum 303
Geschichte der Prüfungstechniken 1900 bis 2000
ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, 3. Et., Trajekte-Tagungsraum
Margarete Vöhringer: Practices in Arts and Sciences – another History of the Russian Avant-Garde
Université Rennes 2, Place du Recteur Henri Le Moal, 35000 Rennes (Frankreich)
Margarete Vöhringer: Der Augenspiegel. Sehen und Gesehen werden im 19. Jahrhundert
Leuphana Universität Lüneburg, Scharnhorststr. 1, 21335 Lüneburg
Margarete Vöhringer: Die Bühler-Wundt-Kontroverse
Zentrum für Kulturwissenschaftliche Forschung (ZKFL), Königstr. 42, 23552 Lübeck
Glas. Materielle Kultur zwischen Zeigen und Verbergen
ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, 3. Et., Trajekte-Tagungsraum
Margarete Vöhringer: Das Graefe-Museum. Briefe, Augenspiegel, Aquarelle und die Entstehung einer neuen Wahrnehmungslehre
Zentrum für Kulturwissenschaftliche Forschung (ZKFL) Lübeck, Königstr. 42, 23552 Lübeck
Margarete Vöhringer: Geschichte und Theorie der Sehstörungen in Kunst und Wissenschaft
Hochschule für Bildende Künste Dresden, Güntzstr. 34, 01307 Dresden, R. 229
Margarete Vöhringer: Zur Praxis der visuellen Wahrnehmungstheorie. Albrecht von Graefes Augenheilkunde und Hermann von Helmholtz’ physiologische Optik
Technische Universität Berlin, Str. des 17. Juni 135, 10623 Berlin, Hauptgebäude
Margarete Vöhringer: The ophthalmoscope. An instrument between theory and practice
Università degli Studi di Torino, Via Giuseppe Verdi, 8, Torino (Italien)
Margarete Vöhringer: The ophthalmoscope. An instrument between perception theory and medical practice
Università degli Studi di Milano, Via Festa del Perdono, 7, 20122 Milano (Italien)
Bild- und Wissenschaftsgeschichte
ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, Seminarraum 303
Von der Spur zum Bild. Zur Theorie und Geschichte der Bildgebung
ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, 3. Et.
Geschichte der Prüfungstechniken 1900 bis 2000
ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, 3. Et., Trajekte-Tagungsraum
Synergietalks 11: The Vibratory Cultures of Modern Art
ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, 3. Et., Seminarraum 303
Margarete Vöhringer: Sight Disorders. Visual Instruments and their Effects in Arts and Sciences
CNRS, Laboratoire SPHERE, Université Paris Diderot Paris, 4 rue Elsa Morante, 75013 Paris, bâtiment Condorcet, salle Klein, 612B (Frankreich)
Margarete Vöhringer: Das Auge im Labor. Erforschung und Gestaltung eines Organs
Eidgenössische Technische Hochschule Zürich, Haldeneggsteig 4, 8092 Zürich, IFW, E 42 (Schweiz)
Abb. oben: Augenspiegel-Untersuchung im umgekehrten Bild, ca. 1860 (aus: Hundert Jahre Augenspiegel, Leipzig 1951, S. 19)