Wahnsinn und Methode. Notieren, Ordnen, Schreiben in der Psychiatrie
Program
Donnerstag, 21.03.2013
15.00
Begrüßung
Armin Schäfer/Cornelius Borck: Einführung
Sektion I: Aufschreibesysteme und Diskurse
Moderation: Thomas Beddies
15.30–16.30
Volker Hess: Die Buchhaltung des Wahnsinns oder der Wahnsinn der Buchhaltung: Archiv-und Bürotechniken der Berliner Nervenklinik im frühen 20. Jahrhundert.
17.00
Marian Kaiser: Wahnsinn und Kultur. Schreibakte und Zählkarten zwischen Europa und Asien
18.00
Rupert Gaderer: Mimetischer Parasitismus. Psychiatrie, Recht und Kulturtechniken des Schreibens um 1900
Freitag, 22..03.2013
Sektion II: Beobachtungen, Aufzeichnungen, Schreibformen
Moderation: Alexa Geisthövel
10.00–11.00
Petra Fuchs/Wolfgang Rose: »Unter Wahrung der gegenseitigen Kompetenzen«. Pädagogische Beobachtungen in den Krankenakten der psychiatrischen Kinderbeobachtungsstation an der Charité (1921–1933)
11.15–12.00
Birgit Stammberger: Der psychologische Versuch in der Psychiatrie Diskursive Aushandlungsprozesse im Umfeld der experimentellen Methode bei Emil Kraepelin
12.15–13.15
Novina Göhlsdorf : Aufschreibeverfahren und -probleme: Leo Kanners Aufzeichnungen autistischer Kinder
Sektion III: Feldforschung und Fallstudien
Moderation: Rainer Herrn
14.30–15.30
Sophia Könemann/Sonja Mählmann: Fliegende Blätter und Papierkrieg. Über Dynamiken psychiatrischer Aufschreibeverfahren
15.45
Max Gawlich: Schock-und Krampftherapien und ihre Aufschreibesysteme
16.45–17.45
Anna Urbach: »Das Fallen fixieren«. Die Dokumentation der Epilepsie in der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Uchtspringe 1894–1914
18.00
Tomke Hinrichs: Selbstzeugnisse psychiatrisierter Menschen und deren Auswirkung auf die Irrenrechtsbewegung im Wilhelminischen Deutschland/Sachsen
Samstag, 23.03.2013
Sektion IV: Wiedergabe und Widerstand
Moderation. Katja Günther
10.00 –11.00
Vincent Barras: Le problématique de récit des halluzinations (thematisé par Henri Ey)
11 .15–12.15
Sophie Ledebur : Von der Psychologie in der psychiatrischen Beschreibung
12.30
Hubert Thüring: Der (poetische) Widerstand der Sprache im Aufschreibesystem der Psychiatrie: Schreber, Wölfli & Co.
13.30–14.00
Wie geht es weiter? Reflexionen zum Abschluss, Planung der Publikation
Der Workshop ist der Diskussion eines methodischen Aspekts der Psychiatrie gewidmet, der seit dem 19. Jahrhundert maßgeblich die Arbeit in Klinik und Forschung geprägt hat. Er schlägt vor, die Methoden der Psychiatrie anhand der Verfahren des Notierens, Ordnens und Schreibens in den Blick zu nehmen. Denn Notieren, Ordnen und Schreiben spielen für die Beobachtung der Symptome, bei der Untersuchung des Patienten oder für die Klassifikation der Krankheiten eine zentrale Rolle: Sie sind Kern einer psychiatrischen Methodenlehre, konstituieren psychiatrische Erkenntnisobjekte und strukturieren nicht zuletzt auch den Alltag in der Klinik.
Seit dem 19. Jahrhundert setzte sich in psychiatrischen Kliniken die patientenbezogene Dokumentation durch. Das Aufschreibeverfahren der Ärzte wurde aus der Registratur ausgegliedert, die hauptsächlich zu Verwaltungszwecken diente. Die neue Dokumentation in Form einer Krankenakte besaß die offene Struktur eines Hefts, einer Blattsammlung oder eines Albums. Zwar forderte die Verwaltung weiterhin eine Protokollierung bestimmter Daten, aber sie diktierte nicht mehr Art und Umfang des Eintrags. Vielmehr konnten zwischen den Deckeln einer Akte Schriftstücke und Objekte verschiedener Art versammelt werden. Ungeachtet der Versuche zur Normierung wurden die Akten zu heterogenen Dossiers, die »Notate, Protokolle, Äußerungen und Materialien allein aufgrund ihres Bezugs zum Patienten« (Volker Hess) vereinigten.
Die Psychiatrie entwickelte aus dem Aufschreibeverfahren der Ärzte im Zuge ihrer Verwissenschaftlichung und Ausdifferenzierung allmählich ein komplexes eigenständiges Aufschreibesystem, das neben den Krankenakten auch Stations-, Medikations-, Labor-, Diagnose-, Gutachtenbücher der Kliniken umfasste und sich so bis weit in die Infrastruktur der Klinik, die Publikationskultur der Disziplin, aber auch den juristischen und gesellschaftlichen Umgang mit psychischen Störungen hinein verzweigte. Die überlieferten Elemente dieses Aufschreibesystems bieten die Chance für einen neuen Blick auf die Prozessualität psychiatrischer Klinik und Forschung. Anhand der Verfahren des Notierens, Ordnens und Schreibens kann nicht nur die Entwicklung psychiatrischer Aufzeichnungspraktiken und Notationsweisen nachgezeichnet, sondern auch verfolgt werden, wie die psychiatrischen Methoden zugleich ein Wissen formieren, eine Machtkonstellation errichten und eine Ontologie des Wahnsinns herstellen. Nicht zuletzt dokumentieren Notieren, Ordnen und Schreiben eine Eigenlogik des Beobachtens, Sammelns, Protokollierens, Begutachtens und Interpretierens. So wirken etwa Schreibszenen auf die Äußerungen der Patienten zurück und reizen Phänomene an, die wiederum aufgezeichnet werden. Die psychiatrischen Methoden lösen insgesamt eine Dynamik aus, welche die Nosologien wieder in Frage stellt, gefundene Differenzierungen permanent über sich hinaus treibt und Klinik und Forschung zu einem unabschließbaren Projekt geraten lässt.