Aby Warburg und die Religionskulturen
Der Hamburger Kunst- und Kulturwissenschaftler Aby Warburg (1866–1929) ist nicht nur Gründer der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg (KBW), sondern bis heute Stichwortgeber für die Forschung vieler geistes- und kulturwissenschaftlicher Disziplinen. Wiederholt hat er darauf verwiesen, wie wichtig das Studium der Religionen für das Verständnis kulturhistorischer Zusammenhänge sei. Wer tiefere Einsichten in die symbolischen Formen und kulturellen Überlieferungen in Text und Bild sowie in den Verlauf ihrer »Wanderstrassen« gewinnen wolle, der müsse sich für das interessieren, was in den Religionen seit dem (wie er ihn nannte) »primitiven ›Greifmenschen‹« an »Andachts- und Denkraum« geschaffen worden sei.
Warburg wollte durch die »Verknüpfung von Kunstgeschichte und Religionswissenschaft die kulturwissenschaftliche Methode verbessern«, wie er im Aufsatz zu Luther und der Astrologie kurz nach dem Ersten Weltkrieg erklärte. Er behauptete dabei die Gleichzeitigkeit symbol- und affektgeschichtlicher Überlieferungen, mit denen primitiv-indogene, pagan-antike und die altmediterranen Religionskulturen die Geschichte des europäischen Bildgedächtnisses geprägt haben. Daraus seien dann Pathosformeln hervorgegangen, stereotype Gebärden, die höchstes Leid, aber auch brennende Leidenschaft (dies die beiden Bedeutungen von pathos) zum Ausdruck bringen.
Im Forschungsprojekt ging es nicht um eine Theologie- oder Glaubensgeschichte, sondern um eine Kulturgeschichte mit Rekurs auf bild- und religionswissenschaftliche Fragestellungen. Nicht, was in Kirche, Synagoge, Moschee bekannt oder gepredigt wird, wurde untersucht, sondern in welchen bildlichen und medialen, rhetorischen und textuellen Formen dies jeweils geschah, freilich nicht allgemein, sondern fokussiert auf Material, Praktiken, Stoffe, mit denen Warburg sich in seinen Vorhaben beschäftigt hat. Weniger interessiert, welchen Platz er selbst den jeweiligen Religionskulturen in einer Entwicklungsgeschichte der Menschheit zuschrieb. Da folgte er weitgehend dem Mainstream seiner Zeit. Aber in Figuren wie denen von mehrfacher Schichtung und Überlagerung sowie im Denkbild des Nachlebens (das sich sein Vorleben selbst erst erschafft) wird diese Konventionalität dynamisiert und aufgebrochen. Es ist weniger der Warburg der Philologen als vielmehr der der Surrealisten, der in diesem Forschungsprojekt analysiert wurde, wenn auch oft mit Methoden der Begriffs- und Religionsgeschichte.
Untersucht wurden Stellung, Funktion, Bedeutung der Religionskulturen und ihres Nachlebens in Warburgs zu Lebzeiten publizierten sowie in seinen nachgelassenen Schriften, in der reichen Korrespondenz, den Tagebüchern sowie den Zettelkästen, schließlich in seinem Projekt der KBW als machine à penser. Das Forschungsprojekt zielte dabei über die engere Warburgforschung hinaus. Es eröffnete Einblicke in das »Laboratorium kulturwissenschaftlicher Bildgeschichte« (Luther-Aufsatz) und setzte einen neuen Akzenz in der internationalen kulturwissenschaftlichen Forschung.
Abb. oben: Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne. Aufstellung der Bildtafeln im Lesesaal der KBW, Herbst 1929. © Warburg Institute London
Siehe auch:
ZfL-Projekt Aby Warburg: Werke in einem Band (Edition) (2008–2009)
Publikationen
Édité par Philippe Despoix et Martin Treml. Avant-propos de Carlo Ginzburg
Gertrud Bing: Fragments sur Aby Warburg
Documents originaux et leur traduction française
Teología política e imagen
Martin Treml
- Passio als Leid und Leidenschaft. Aby Warburgs Bilderatlas, in: Björn Bertrams, Antonio Roselli (Hg.): Selbstverlust und Welterfahrung. Erkundungen einer pathischen Moderne. Wien, Berlin: Turia + Kant 2021, 254–279
Veranstaltungen
Martin Treml: Passio als Leid und Leidenschaft. Aby Warburgs Bilderatlas
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Ammerländer Heerstraße 114-118, 26129 Oldenburg, A14 1-111 (Senatssitzungssaal)
Martin Treml: »Meine dreckigen Götter«. Sigmund Freuds Psychoanalyse und das Nachleben der Religionskulturen
IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften | Kunstuniversität Linz in Wien, Reichsratsstr. 17, 1010 Wien (Österreich)
Martin Treml: Erich Auerbach und die Religionskultur
Karl Jaspers-Haus, Unter den Eichen 22, 26122 Oldenburg
Kulturtheorie und die Analyse von Religionskulturen
Universität Wien, Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Hofburg Batthyanystiege, 1010 Wien (1. Stock), Jura-Soyfer-Saal
Martin Treml: Moria, Golgatha, Mekka. Zum Sohnesopfer in Judentum, Christentum, Islam
Freie Universität Berlin, Holzlaube, Fabeckstraße 23–25, 14195 Berlin, Raum 2.2063