Aporien forcierter Modernisierung. Figurationen des Nationalen im Sowjetimperium
»Georgien hat den Kamm des Kaukasus überschritten« – mit diesen Worten signalisierte 1991 der georgische Dichter und langjährige Vorsitzende des georgischen Schriftstellerverbandes, Irakli Abašije (1909–1992), im Rückblick für die Kultursituation in den 1930er Jahren ein neues Dispositiv: Nicht mehr Russland gebe die Blickrichtung auf Georgien vor, stattdessen sei es nun die georgische Kultur selber, die durch die Expansion nach Norden die Strategien ihrer Selbstrepräsentation bestimme. Die Bühne, die die georgische Kultur Abašije zufolge betreten hatte – die Sowjetunion –, war zu dieser Zeit ein Ort, an dem Terror und Gewalt herrschten, während in den öffentlichen Diskursen Erfolge bei der Industrialisierung und Modernisierung gefeiert wurden und das Land als ein Hort der ›Brüderlichkeit›‹ und ›Völkerfreundschaft‹ gepriesen wurde.
Das Projekt untersuchte in diesem Zusammenhang u.a. die Metapher vom Sowjetimperium als einer »kommunalen Wohnung« (Y. Slezkine) mit vielen Zimmern, in denen verschiedene Nationen bzw. Nationalitäten unter einem gemeinsamen Dach lebten. Diese Metapher verweist auf ein breites Spektrum an kulturellen Praktiken: von massenhafter Enteignung und Zwangsumsiedlung über latente Konflikte oder wachsenden Zusammenhalt bis hin zum Ausbruch aus der Zwangsnähe nach 1991. Eine kulturwissenschaftliche Analyse solcher diskursiver, ikonographischer und symbolischer Repräsentationsformen des Nationalen in der Stalin-Zeit offenbart, wie die Kultur des sowjetischen Nationalen mit Hilfe von spezifischen Operationen (wie Archaisierung, Vereinfachung, Mythopoesis) und Figuren (»Stalin als Vater der Völker«, »Mutter-Heimat«, »älterer Bruder«) als genealogische konstruiert wird.
Georgien wurde nicht nur deshalb als paradigmatisches Beispiel für eine derartige Forschungsperspektive gewählt, weil Stalins Heimat in den offiziellen Diskursen viel Aufmerksamkeit gewidmet wurde, sondern auch weil sich die georgische Kultur – und damit gleichsam die Sowjetzivilisation – durch ihre weit in die Geschichte zurückreichende Tradition als eine besonders archaische inszenieren ließ. So begann die Darstellung der Geschichte Russlands im Schullehrbuch von 1937 mit Urartu, dem altorientalischen Reich in Transkaukasien, das als der erste ›Vielvölkerstaat‹ auf dem Territorium der späteren UdSSR galt. Ethnogenese, Historiographie und Literaturgeschichte ließen sich in den 1930er/40er-Jahren, in denen der stalinsche nationale Kanon etabliert wurde, insofern ideologisch instrumentalisieren, als selbst das Vornationale und Prähistorische nationalisiert wurde. In signifikanter Weise wurde beispielsweise der mittelalterliche Dichter Šota Rustaveli (12./13. Jh.) nicht nur zu einer georgisch-nationalen Integrationsfigur, sondern in einem pompös inszenierten Jubiläum (1937) zum Symbol einer frühen georgischen, d.h. ›östlichen‹, Renaissance, die der europäischen vorausgegangen sei. Das georgische kulturelle Erbe wurde auf diese Weise zu einem zentralen Schauplatz, um das Postulat einer Überlegenheit der sowjetischen über die europäische Kultur zu begründen.
Die Genealogien, Rhetoriken und Repräsentationen des Georgischen im Raum der Sowjetkultur lassen erkennen, auf welche Weise traditionelle Pathosformeln (wie z.B. »Sonniges Georgien«) und Topoi (wie z.B. die Kolchis) aus dem romantisch-nationalen ins sozialistisch-sowjetische Paradigma überführt wurden. (Durch die zeitweilige Beteiligung von Zoran Terzić an der Projektarbeit konnte zudem eine kulturvergleichende Perspektive zu jugoslawischen bzw. postjugoslawischen Entwicklungen in die Diskussionen einbezogen werden). Das Arsenal an rhetorischen, symbolischen und ikonographischen Figuren eines ideologiekonformen national-georgischen Kanons belegt, dass im Unterschied zur stalinschen Formel für die sozialistisch-realistische Kunst – »National in der Form, sozialistisch im Inhalt« – das Nationale de facto zunehmend essentialisiert und zu einer Kategorie des Inhalts wurde (eine These, die bereits der russische Schriftsteller Vasilij Grossman vertreten hatte). Dieser Vorgang, der auch als »Georgisierung« Georgiens (Ronald Suny) verstanden wird, impliziert, dass die Neuformung Georgiens im Sowjetimperium zu einer »sozialistischen Nation« sowohl mit einer Übersetzung des romantisch-nationalen Kanons des 19. Jahrhunderts ins Sowjetische (Sozialistische) als auch mit einer Nationalisierung des Sozialistischen (im Sinne einer symbolischen und affektiven Aufladung) verbunden war. Die untersuchten sowjet-georgischen Figurationen des Nationalen verweisen zudem darauf, dass diese Vorgänge einem Nationalismus Vorschub geleistet haben, der im postsowjetischen Georgien aufbrach und dessen Nachwirken bis heute virulent geblieben ist.
Die Aktualität der Fragestellung bewirkte, dass die Forschungen des Projektes auch in Georgien, wo der Nationalismus ein bislang wenig erforschtes Phänomen darstellt, auf reges Interesse nicht nur seitens der akademischen Öffentlichkeit (u.a. Teilnahme an der internationalen Tagung »Black Sea Identity« der Ilia Chavchavadze Univ. Tbilissi, Batumi 23.–24.5.2008), sondern auch der allgemeinen Medien gestoßen sind.
Publikationen
Sonniges Georgien
Figuren des Nationalen im Sowjetimperium
მართლმადიდებლური ეთიკა და არათავისუფლების სული
დაკარგული კონტექსტები
ჩაკეტილი საზოგადოება და მისი დარაჯები
Giorgi Maisuradze
- sekularizacia da sekularizaciis bedi saquarteloshi [Die Säkularisierung und ihr Schicksal in Georgien], in: Giga Zedania, Merab Gaganidze (Hg.): Säkularisierung: Konzepte und Kontexte, Tbilisi 2009, 266–286 (mit Zaal Andronikashvili)
- chaketili sazogadoeba da misi darajebi [Die geschlossene Gesellschaft und ihre Hüter], in: Tskheli shokoladi 46 (2009), 87–94
- stalinis aqcenti da qartuli enis apokalifsi [Stalins Akzent und die Apokalypse der georgischen Sprache], in: Tskheli shokoladi 48 (2009), 101–113
- patriotizmi rogorc religia [Patriotismus als Religion], in: Tskheli shokoladi 49 (2009), 99–108
- temi da satogadoeba [Gemeinschaft und Gesellschaft], in: Tshheli shokoladi 50 (2009), S. 96–108
- gmiri [Der Held], in: Tskheli shokoladi 51 (2009), 88–98
- panteonidan panteonamde [Von Pantheon zu Pantheon], in: Tskheli shokoladi 53 (2009), 106–113
- gadzlierebuli locva. martlmadidebloba postsabchota saqartveloshi [›Intensiver beten‹. Die Orthodoxie in postsowjetischer Zeit], in: Tskheli shokoladi 56 (2010), 97–106
- postsachota kavshiri anu gandevnili warsuli [Die Postsowjetunion oder die verdrängte Vergangenheit], in: Tskheli shokoladi 59 (2010),103–111
- xma ghvtisa da xma erisa [Die Stimme Gottes und die Stimme des Volkes], in: Tskheli shokoladi 63 (2010), 109–116
- didi da mcire imperiebi [Das große und das kleine Imperium], in: Tskheli schokoladi 66 (2010)
Zaal Andronikashivili
- Denkmalkultur in Georgien, in: Geisteswissenschaftliche Zentren Berlin. Bericht über das Forschungsjahr 2008, 73–82
- »Talent der illegitimen Freude«. Zur Affektordnung des georgischen Festes, in: Trajekte 17 (2008), 43–46
- Subversive Zweisprachigkeit. Mziuri, in: Dirk Naguschewski, Stefan Willer: Also singen wir. 60 Beiträge zur Kulturgeschichte der Musik, Berlin: Trajekte Extra 2010
Veranstaltungen
Sonniges Georgien
Botschaft der Republik Georgien, Rauchstraße 11, 10787 Berlin
Der Kulturheros – ein Paradigma zwischen Kult, Kultur und Politik
ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, 3. Et., Seminarraum 303
Das 'Nationale' und das 'Imperiale' (Russisches Reich und Sowjetunion)
ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, 3. Et., R. 303
Politische Narrative und Inszenierungen in aktueller russischer Literatur
ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, 3. Et., Raum 303
Medienecho
Rezension von Stephan Wackwitz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.05.2015, S. 10