(Dis-)Figuration der Schrift. Bibelphilologie und Literaturwissenschaft in der Neuzeit
Kulturwissenschaft und Religion
Es gibt ein steigendes Interesse der Kulturwissenschaften für Religion. Oft wird diese als das ›Andere‹ der traditionellen Philologien aufgefasst: als das radikal Ausgeschlossene, das auch die alten Fächergrenzen und Methoden überschreitet und einen neuen Zugang fordert – Kulturwissenschaft statt Philologie. Dagegen versuchte das Projekt, Religion gerade dort zu untersuchen, wo sie sich mit der Tradition der Philologie berührt: im philologisch-kritischen Umgang mit der Bibel. Dabei zeigte sich nicht nur, dass viele der kulturwissenschaftlichen Methoden eine philologische Vorgeschichte haben, sondern dass auch die Philologie selbst immer schon aus kulturellen Spannungsfeldern hervorgeht – nicht zuletzt aus der Auseinandersetzung über die Bibel. Dabei ist die Heilige Schrift mehr als nur ein Text unter anderen oder gar als eine Motivquelle für literarische Texte: Sie ist ein in sich komplexes, differenziertes und teilweise auch paradoxes epistemologisches Modell literarischen Wissens, das auch nach dem Ende seiner selbstverständlichen Geltung die europäische Kultur des Buches nachhaltig bestimmt.
Teilprojekte
Dramatik und Bibel(-kritik)
In dem Forschungsprojekt von Kai Bremer wurde der Zusammenhang zwischen Dramatik und Bibel(-kritik) von der Frühen Neuzeit bis in die Moderne untersucht. Ausgangspunkt dafür war die Vernachlässigung der theozentrischen gegenüber der anthropozentrischen Dimension in den Studien zur theatrum mundi-Bildlichkeit in der begriffsgeschichtlichen und der literaturwissenschaftlichen Forschung (so etwa bei R. Konersmann und W. Barner). Im Projekt wurde diese ›Daseinsmetapher‹ (H. Blumenberg) dagegen als Mittel zur Geschichte des Verstehens gedeutet, wodurch zugleich die theozentrische Dramatik in den Blick geriet. Das theozentrierte Drama gilt gemeinhin als Medium der religiösen Popularisierung und damit der propagatio fidei. Jenseits dieser schematischen Funktionalisierung finden sich kaum Studien, die den Zusammenhang zwischen Theologie und Dramatik untersuchen. Angesichts der Theozentriertheit der theatrum mundi-Metaphorik wie großer Teile des Dramas genügt das allerdings kaum. Wenn die Welt das Theater Gottes ist, so ist die Inszenierung des Gottesworts zugleich Lobpreis Gottes und Auslegung der Heiligen Schrift. Die philologische Akribie, mit der die theozentrischen Dramen ausgearbeitet wurden, ist nicht nur Folge eines Verantwortungsgefühls gegenüber dem Publikum. Die theozentrischen Dramen sind das Ergebnis einer poetischen Praxis, die ihrerseits zwei miteinander korrespondierende Grundvoraussetzungen hat: Theologie und Philologie.
Im Projekt wurden folgende Perspektiven untersucht:
1. Die Theologie des Theaters: Spektakulär im Wortsinn wird El gran teatro del mundo durch Gott als Richter – Calderòn dramatisiert also das Weltgericht. Das »endlose Spiegelspiel zwischen Welt und Bühne« (H.-C. V. Herrmann) ist jedoch keine Erfindung Calderòns. Dramatisierungen des Weltgerichts kennt im Rahmen der Fronleichnamsfeiern bereits das späte Mittelalter. Die Weltgerichtsdramen sind nicht als einfaches Hin und Her zwischen Gott und Mensch zu verstehen, weil die Instanz des Richters den vorgeblich starr, theologisch gesprochen prädestinativen Rahmen des Welttheaters in Frage stellt. Theologisch formuliert bedeutet das: die Sündenlehre ist der poetologische Subtext der Weltgerichtsdramatik. Das wurde mittels eines Dreischritts vom spätmittelalterlichen und reformatorischen Weltgerichtsspiel über Calderòns El gran teatro del mundo zu den modernen Erneuerungen des dramatischen Weltgerichts bei Goethe und Hofmannsthal untersucht.
2. Das Theater der Theologie: Die Anthropozentriertheit der begriffsgeschichtlichen Forschungen zur Welttheater-Metaphorik wirft die Frage auf, wie sich deren Begriffe im theozentrischen Bedeutungszusammenhang verhalten. Mit der Welttheatermetaphorik liegt ein komplexes Verweissystem von Zeichen von Bedeutungen vor. Einige der Zeichen verweisen zudem auf weitere Referenzsysteme – insbesondere die Emblematik. Der dadurch gewonnene theozentrische Diskurs des theatrum mundi wurde außerdem auf den Gebrauch der Metapher in theologischen Texten beispielsweise schon bei Calvin zurückbezogen.
3. Die Dramatisierung der Bibel: Mit dem Bibeldrama ergänzt in der Frühen Neuzeit ein Variante der theozentrischen Dramatik die etablierten Formen des religiösen Spiels. Diese Dramatik tritt in dem Moment auf den Spielplan, da die neuzeitliche Bibelkritik einsetzt. Die Forschung hat bisher die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Bibelkritik und -dramatik nicht eingehend gestellt. Das ist erstaunlich, weil einige für die neuzeitliche Bibelkritik zentrale Humanisten und Theologen zugleich Bibeldramen verfasst haben, so De Bèze, Grotius und Heinsius. Die Bibeldramatik erfährt – anders als das Bibelepos – in der Moderne grundlegende Reformulierungen etwa durch Bodmer und Klopstock, durch Hebbel oder Werfel, aber auch auf der Oper. Inwieweit auch hier Zusammenhänge zwischen der Bibelkritik und der Bibeldramatik bestehen, war ebenfalls Gegenstand des Projekts.
4. Die Poetisierung der Bibel: In der frühneuzeitlichen Bibelkritik und noch in den Anfängen der modernen Bibelphilologie werden einzelne biblische Bücher, etwa das Buch Hiob oder das Hohelied, wiederholt als ›Dramen‹ interpretiert. Damit prägen poetologische und philologische Verstehenskategorien den bibelkritischen Diskurs – Ausdruck der generellen disziplinären Offenheit der wissenschaftlichen Diskurse bis ins späte 18. Jahrhundert. Die Bedeutung von Gattungszuschreibung innerhalb des bibelkritischen Diskurses wurden rekonstruiert und ins Verhältnis zur Mitte des 18. Jahrhunderts beginnenden Trennungsgeschichte von Philologie und Theologie gesetzt.
Bibelkritik und Literaturwissenschaft
Das Teilprojekt von Daniel Weidner beschäftigte sich mit dem Zusammenhang von Bibelkritik und Literaturwissenschaft. Zwar ist seit langem ein Allgemeinplatz, daß die Philologie zu einem wesentlichen Teil von der im Verlaufe der Neuzeit sich herausbildenden Bibelkritik abstammt. Weil Bibel- und Literaturwissenschaft aber spätestens seit dem 19. Jahrhundert getrennte Wege gehen, ist die Philologie der Bibel – abgesehen von der gut erforschten Geschichte der Hermeneutik – noch kaum Gegenstand genauerer literaturtheoretisch interessierter Untersuchungen gewesen. Dabei erschöpft sich etwa Herders und Schleiermachers Beschäftigung mit der Bibel keinesfalls in ihrer Hermeneutik, sondern impliziert auch Fragen der Datierung, der Textkritik und der ›höheren Kritik‹ sowie Konzepte der Zeichenhaftigkeit, der Textualität und der Autorschaft. Ohne diesen Kontext und ohne die Vorgeschichte der Auseinandersetzung um die Bibel insbesondere im englischen Deismus ist aber auch die Herausbildung der Hermeneutik kaum zu verstehen.
Gegenstand des Projektes waren also einerseits die auf dem Gebiet der Bibelkritik verhandelten literaturtheoretischen Probleme, andererseits deren Rezeption im allgemeinen literarischen und literaturwissenschaftlichen Diskurs. So wird etwa in den Diskussionen über den literarischen Charakter der Bibel bei Heine oder M. Arnold das bibelkritische Wissen in vielfacher Weise adaptiert, umgeschrieben und gebrochen, um an allgemeine literaturpolitische und kulturkritische Diskurse anschlußfähig zu sein. Kernzeit der Untersuchung war die Hochphase der historisch-kritischen Methode von 1750–1920; die Vorgeschichte im 17. Jahrhundert (Hobbes, Spinoza) wurde ebenso einbezogen wie das Auseinanderbrechen des historisch-kritischen Paradigmas in einer Reihe nachkritischer Projekte wie der Buber-Rosenzweig-Übersetzung oder der »Bible-as-literature«-Debatte. Das Projekt war komparativ angelegt, weil die Debatte über die Bibel in verschiedenen Phasen abwechselnd durch die je spezifisch ausgerichtete englische und deutsche Tradition dominiert wird.
Die Bibelkritik ist von zentraler Bedeutung für die Geschichte einer kulturwissenschaftlich verstandenen Philologie. Sie diskutiert am Text der Bibel allgemeine literaturtheoretische Fragen ebenso wie Gattungsfragen; hier wurden Techniken der Textbehandlung wie Textkritik, ›Quellenscheidung‹, Übersetzung und Edition entwickelt; methodische Probleme, die Bedeutung anonymer Literatur und ›kleiner Formen‹ wurden ebenso erörtert wie der Zusammenhang von Text-, Rezeptions- und Kulturanalyse. Dabei können die kritisch-philologischen Lektüretechniken durchaus als Entwurf einer diskursiven Archäologie avant la lettre verstanden werden, die bei der Begründung der ›ersten Kulturwissenschaft‹ um 1900 eine wichtige und heute oft vergessene Rolle gespielt hat: Warburg, Freud und Cassierer orientieren sich nicht nur an religionsgeschichtlichem Material, sondern auch an Methoden der Religionsgeschichte, die wiederum wesentlich von der Bibelkritik etwa von D.F. Strauss, J. Wellhausen und H. Gunkel bestimmt worden sind.