Klimatologien der beginnenden Moderne

Für jede kulturelle Darstellung von Natur gilt, dass sie notwendigerweise eine künstliche Setzung ist und damit vom Darzustellenden selbst, dem Natürlichen, abweicht. Diese Repräsentationsproblematik besteht auch und in besonders ausgeprägtem Maß für das Klima: Es entzieht sich – stärker noch als beispielsweise eine Landschaft – seiner künstlerischen und theoretischen Darstellung. Klima äußert sich nicht in einer konkreten, erfahrbaren oder kontemplierbaren Wettererscheinung, sondern nur im Verlauf mannigfaltiger Wetterereignisse, die erst durch Messung, Bewertung und Prognose in einem klimatischen Rahmen geordnet werden können. Als Ganzes überfordert das Klima, das sich nur durch Beobachtung über einen längeren Zeitraum und indirekt an seinem Einfluss auf Landschaften, Physiognomien und Kulturen bestimmen lässt, die Aufmerksamkeits- (und Lebens-)spanne einer einzelnen beobachtenden Person. Klima bedarf daher eines Mediums, das die langfristigen Entwicklungen und Einflüsse nachvollziehbar machen kann.

Die Dissertation befasst sich mit Klima als einem theoretischen Konzept für Natur im späten 18. Jahrhundert. In Auseinandersetzung mit Texten von I. Kant, J. G. Herder und J. W. Goethe wird eine historische Typologie von Naturkonzepten erarbeitet, wobei der Fokus auf der Untersuchung der Darstellungsweisen und -strategien des Natürlichen liegt. Klimatische Natur nimmt in diesem Kontext die Funktion eines zur modernen, distanzierten Naturbetrachtung alternativen theoretischen Konzepts ein, das in einem durchdringenden Verhältnis zu Kultur steht. Das zentrale Interesse der Arbeit gilt nicht nur einer exemplarischen Konstellation von Naturentwürfen im 18. Jahrhundert, sondern insbesondere auch den Darstellungsschwierigkeiten einer formenden und formbaren, durchdringenden Natur. Diese werden in den jüngsten Diskussionen von Klimawandel und Anthropozän in der Literatur- und Kulturwissenschaft wie auch in den Künsten erneut thematisch. Die Arbeit setzt daher ausgewählte gegenwärtige Naturperspektivierungen aus Theorie, Literatur und Kunst in ein Verhältnis zur erarbeiteten Typologie früher moderner Naturkonzepte.

ZfL-Promotionsstipendium 2017–2019
Leitung: Hanna Hamel

Publikationen

Hanna Hamel

Übergängliche Natur
Kant, Herder, Goethe und die Gegenwart des Klimas

August Akademie
August Verlag, Berlin 2021, 256 Seiten
ISBN 978-3-941360-80-8
DOI 10.52438/avaa1001 (Open Access)

Hanna Hamel

  • Übergang, in: Michael Gamper, Helmut Hühn, Steffen Richter (Hg.): Formen der Zeit. Ein Wörterbuch der ästhetischen Eigenzeiten, Hannover 2020, 383–390
  • Die Zeit des Klimas. Zur Verzeitlichung von Natur in der literarischen Moderne, in: Michael Bies, Michael Gamper (Hg.): Ästhetische Eigenzeiten. Bilanz der ersten Projektphase, Hannover 2019, 301–323 (mit Eva Horn und Solvejg Nitzke)
  • Anschauung der Atmosphäre. Zur Darstellung des »Übergänglichen« in Goethes »Versuch einer Witterungslehre«, in: Goethe-Jahrbuch 135 (2018), 47–56
  • Gemäßigte Temperatur. J. G. Herders Klimatologie der Mitte, in Urs Büttner, Ines Theilen (Hg.): Phänomene der Atmosphäre. Ein Kompendium Literarischer Meteorologie, Stuttgart 2017, 421–432
  • Klimatologie als Anthropologie. Modellierung von Natur im späten 18. Jahrhundert, in: Forum interdisziplinäre Begriffsgeschichte 5.1 (2016), 78–89