LEONARDO-Effekte. Exemplarische Konstellationen aus der Trennungsgeschichte von Natur- und Geisteswissenschaften: 1800 – 1900 – 2000
Paul Valéry hat Leonardo da Vinci als emblematische Figur einer poietischen Wissenskultur bezeichnet. Gegen dualistische Modelle, die einen Gegensatz von Natur und Geschichte, von Geist und Körper konstruieren, lassen sich Leonardo-Effekte an den Grenzen einer disziplinären Ordnung beobachten, die einen wissenschaftsgeschichtlichen Blickwechsel jenseits der Trennung von Wissenshemisphären in Richtung auf transversale Zugänge, auf Trennung und Vermischung ermöglichen.
Untersucht wurden Leonardo-Effekte symptomatisch in vier exemplarischen Konfigurationen. Eine diachrone Studie widmete sich der von der Romantik ausgehenden Tradition poietischer und imaginärer Enzyklopädien (Novalis’ Vision einer Poetisierung der Wissenschaften), die den Gedanken variieren, daß die »eigentlich unnatürliche Trennung der Poesie und Wissenschaft« (F. Schlegel) überwunden werden müsse. Der Roman wird in dieser Tradition als moderne Form fiktiven enzyklopädischen Wissens verstanden (Balzac, Flaubert, Musil, Joyce); Schriftsteller entwerfen im 20. Jahrhundert inter-mediale imaginäre Enzyklopädieprojekte (J. L. Borges, H. G. Wells, G. Bataille, R. Queneau, B. Brecht, H. Mann, A. Savinio) auf der Suche nach neuen Ordnungen des Wissens.
Drei synchrone Studien haben Leitmetaphern und Denkfiguren als diskursive Leonardo-Effekte und Zonen transversalen Wissens untersucht:
- um 1800 den Ort des sich konstituierenden disziplinären Wissens an der Schwelle von Histoire naturelle zur Naturwissenschaft in philosophischen und literarischen Schriften;
- um 1900 anhand der Diskursfigur des sogenannten psycho-physischen Parallelismus die Konfiguration eines »nervösen Zeitalters«;
- um 2000 in der Debatte über die Lesbarkeit des Lebens und deren Literarisierung (Science Fiction) die biopolitischen Herausforderungen der dualistischen Wissensmodelle.
Publikationen
Neuronen und Neurosen
Der psychische Apparat bei Freud und Lacan. Ein historisch-theoretischer Versuch zu Freuds Entwurf von 1895
Arthur Rimbaud: Mein traurig Herz voll Tabaksaft
Gedichte französisch-deutsch. Mit einem Essay »Rimbauds unbedingte Modernität« von Karlheinz Barck
Hirnhöhlenpoetiken
Theorien zur Wahrnehmung in Wissenschaft, Ästhetik und Literatur um 1800
Karlheinz Barck
- Science/Fiction im Werk von Werner Krauss, in: Hermann Hofer, Thilo Krüger, Christa Riehn (Hg.): Werner Krauss. Literatur/Geschichte/Schreiben. Tübingen/Basel: Francke 2003, 99–107
- Connecting Benjamin: The Aesthetic Approach to Technology, in: Hans Ulrich Gumbrecht, Michael Marrinan (Hg.): Mapping Benjamin. The Work of Art in the digital Age. Stanford: Stanford University Press 2003, 39–44
- Rezeptionsästhetik im Rückblick, in: Wolfgang Adam, Holger Dainat, Gunter Schandera (Hg.): Wissenschaft und Systemveränderung. Rezeptionsforschung in Ost und West – eine konvergente Entwicklung? Heidelberg: Winter 2003, 69–77
- Literatur/Denken: Über einige Relationen zwischen Literatur und Wissenschaft, in: Perspektiven geisteswissenschaftlicher Forschung, hg. vom Vorstand des Vereins Geisteswissenschaftliche Zentren Berlin. Berlin: Geisteswissenschaftliche Zentren 2003, 52–59
- Estetica, scienza e/o sapere mondano?, in: Àgalma. Rivista di studi culturali e di estetica 6 (2003), 25–30
- Leonardo-Effekte. Perspektiven aus der Differenzierung von Natur und Geisteswissenschaften, in: Weimarer Beiträge 59.2 (2013), 167–189
S. dazu im gleichen Heft: Martin Treml, Mai Wegener: Vorbemerkungen zu: Karlheinz Barck, »Leonardo-Effekte«
Christina Brandt
- Die zwei (und mehr) Kulturen des »Klons‹. Utopie und Fiktion im biowissenschaftlichen Diskurs der Nachkriegszeit, in: NTM. Zeitschrift fuer Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 17.3 (2009), 243–275
- Die kodifizierte Ordnung der Dinge. Zum Gebrauch von Metaphern in den Wissenschaften, in: Matthias Michel (Hg.): Fakt&Fiktion_7.0. Wissenschaft und Welterzählung. Die narrative Ordnung der Dinge. Zürich: Chronos 2003, 73–77
Mai Wegener
- Der psychophysische Parallelismus. Zu einer Diskursfigur im Feld der wissenschaftlichen Umbrüche des ausgehenden 19. Jahrhunderts, in: NTM. Zeitschrift fuer Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 17.3 (2009), 277–316
- Abschreibesysteme. Wilhelm Fließ’ Plagiatsaffäre, in: Trajekte 7 (2003), 4–9
- »Tout le reste est ... littérature.« Valéry und die Frage nach der Wissenschaft, in: Trajekte 6 (2003), 38–43
- unbewußt, das Unbewußte, in: Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 6. Stuttgart/Weimar: Metzler 2005
Mai Wegener und Caroline Welsh
- Leonardo-Effekte: Wo Neues entsteht, da mischt es sich. Jahresband der Geisteswissenschaftlichen Zentren Berlin. Gekürzte Fassung in der Frankfurter Rundschau vom 31.8.2004, Nr. 202: 16 unter dem Titel: »Die Zwingburg der Begriffe zerschlagen«
Caroline Welsh
- Die »Stimmung« im Spannungsfeld zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Ein Blick auf deren Trennungsgeschichte aus der Perspektive einer Denkfigur, in: NTM. Zeitschrift fuer Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 17.2 (2009), 135–169
- Die Sirene und das Klavier. Vom Mythos der Sphärenharmonie zur experimentellen Sinnesphysiologie, in: Bernhard Dotzler, Henning Schmidgen u.a. (Hg.): Parasiten und Sirenen: Zwei ZwischenRäume (Preprint 253 des MPI für Wissenschaftsgeschichte. Berlin, Januar 2004, 57–85)
Medienecho
Artikel von Mai Wegener und Caroline Welsh, in: Frankfurter Rundschau vom 31.8.2004