Figuren des ›Sakralen‹ in der Dialektik der Säkularisierung

In seiner engeren Bedeutung bezeichnet der Begriff der Säkularisierung die Übertragung kirchlicher Güter an den Staat. Wo er über diesen religionssoziologischen und kulturhistorischen Aspekt hinausgeht, umfaßt er v.a. Fragen der Geschichtsphilosophie: die Übertragung von Rechten bzw. der Souveränität überhaupt auf weltliche Institutionen oder Personen, die Kontroverse um die ›Legitimität der Neuzeit‹ (H. Blumenberg), das Konzept der historischen Zeit bzw. die Kategorie ›Weltgeschichte‹ gegenüber dem Heilsgeschehen (K. Löwith), das Konzept der Theokratie sowie im Anschluß daran Fragen der Politischen Theologie. Demgegenüber wurden im Projekt auf literaturtheoretischer, philosophiehistorischer und religionswissenschaftlicher Grundlage Überlegungen zur Säkularisierung als Praktik und Rhetorik angestellt.

Gegenstand war nicht die Betrachtung religiöser Texte als Literatur (z.B. Poetik religiöser Texte, Stilistik und Formgeschichte biblischer und religiöser Texte etc.) und auch nicht die Funktion von Kunst oder anderer kultureller Formen als Religion (Programme von Kunstreligion, auch Medientheologie, Technokult oder Sport als ›neue Religion‹ – wie überhaupt alle ›quasi-religiösen‹ Phänomene). Vielmehr ging es um die Untersuchung der differenzierten und vielgestaltigen Sphäre des Übergangs und der Übertragungen in der Dialektik der Säkularisierung. Im Mittelpunkt standen dabei die Transformation von Bedeutungen am Übergang zwischen Religiösem und Profanem anhand von kulturellen Deutungsmustern, Wissenspraktiken, von Schreibweisen und ästhetischen Verfahren.

Das Hauptaugenmerk richtete sich

  1. auf jene Spuren und Zeugnisse, in denen Bezugnahmen auf Reste von und Erinnerungen an biblische, religiöse und göttliche Momente im Denken und an daran gebundene Vorstellungen von Schrift, Bild, Stimme zum Ausdruck kommen,

  2. andererseits auf Momente der verwandelten oder entstellten Wiederkehr als des ›Nachlebens‹ (A. Warburg) religiöser Bedeutungen und auf Figuren der Resakralisierung in einer entzauberten Moderne bzw. in einer ›Welt ohne Gott‹. Diese finden ihren Ausdruck vornehmlich in Verfahrensweisen, die als Metamorphosen und Maskierungen einer oktroyierten oder als normativ erwarteten Konversion zu analysieren sind (vgl. Maranentum und maranische Schreibweise), als Schreiben und Denken zwischen zwei Sprachen, das sich zugleich zwischen Religion und Philosophie wie auch zwischen Offenbarung und Aufklärung situiert (M. Mendelssohn), als explizite Doppelreferenz auf die Hegelsche Kategorie der Weltgeschichte und das Buch Gottes (H. Heine) bzw. als Doppelbildung von klassisch-antikem und religiösem Wissen, wie es für viele Gelehrte des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts typisch ist (z.B. Jacob Bernays, Aby Warburg, Sigmund Freud), oder als Übertragung religiöser Topoi in die Kultur der Moderne (z.B. Walter Benjamins ›profane Erleuchtung‹).

  3. Schließlich und nicht zuletzt zählen dazu auch Übertragungen im buchstäblichen Sinne, d.h. Übersetzungen religiöser Texte sowie Übersetzungstheorien, die das ›normale‹ Problem von Übersetzungen insofern überschreiten, als sie den Wechsel nicht nur zwischen zwei unterschiedlichen (National-)Sprachen, sondern zwischen vollkommen differenten Schrift- und Bedeutungskonzepten betreffen.
gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) 2000–2005
Leitung: Sigrid Weigel
Bearbeitung: Ernst Müller, Martin Treml, Daniel Weidner

Publikationen

Daniel Weidner

Rhetorik der Säkularisierung
Über eine Denkfigur der Moderne

Religion und Moderne
Campus, Frankfurt am Main 2024, 243 Seiten
ISBN 978-3-59-351831-2
Martin Treml, Daniel Weidner (Hg.)

Nachleben der Religionen
Kulturwissenschaftliche Untersuchungen zur Dialektik der Säkularisierung

Trajekte-Buchreihe
Wilhelm Fink Verlag, München 2007, 280 Seiten
ISBN 978-3-7705-4369-4
Ernst Müller

Ästhetische Religiosität und Kunstreligion
In den Philosophien der Aufklärung bis zum Ausgang des deutschen Idealismus

LiteraturForschung-Buchreihe
Akademie Verlag, Berlin 2004, 325 Seiten
ISBN 978-3-05-003764-6
Sigrid Weigel

Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte
Schauplätze von Shakespeare bis Benjamin

Trajekte-Buchreihe
Wilhelm Fink Verlag, München 2004, 306 Seiten
ISBN 978-3-7705-3705-1

Ernst Müller

  • Säkularisierung als Verwindung der Metaphysik (Gianni Vattimo), in: Trajekte 8 (2004), 46 f.
  • Zur Modernität des Religionsbegriffs in der ›Phänomenologie des Geistes‹, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband: Hegels Phänomenologie heute, hg. von Andreas Arndt und Ernst Müller. Berlin: Akademie-Verlag 2004, 176–193
  • religiös, Religiosität, Religion, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 5. Stuttgart, Weimar: Metzler 2003, 227–264
  • mythisch, Mythos, Mythologie, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 4. Stuttgart, Weimar: Metzler 2002, 309–346
  • Kants Symbolbegriff in Ästhetik und Religionstheorie. Zum Ursprung des Begriffs in den ›Träumen eines Geistersehers‹, in: Volker Gerhardt, Rolf Horstmann und Ralph Schumacher (Hg.): Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des 9. Internationalen Kant-Kongresses des Instituts für Philosophie der Humboldt Universität zu Berlin und der Kant-Gesellschaft e.V. 26. bis 31. März 2000 in Berlin, Bd. 3. Berlin, New York: de Gruyter 2001, 929–940
  • Die ›verschleierte Isis‹ der Vernunft. Kants Ästhetik und die Depotenzierung der Religion, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 4 (1999), 553–571
  • Gerichtsbarkeit bis in die verborgensten Winkel des Herzens‹. Ästhetische Religiosität als politisches Konzept bei Kant – Schiller – Humboldt, in: Karlheinz Barck, Richard Faber (Hg.): Ästhetik des Politischen – Politik des Ästhetischen. Würzburg: Köngshausen und Neumann 1999, 121–133
  • Beraubung oder Erschleichung des Absoluten? Das Erhabene als Grenzkategorie ästhetischer und religiöser Erfahrung, in: Jörg Herrmann, Andreas Mertin, Eveline Valtink (Hg.): Die Gegenwart der Kunst. Ästhetische und religiöse Erfahrung heute. München: Fink 1998, 144–164
  • Religion als ›Kunst ohne Kunstwerk‹. Friedrich Schleiermacher Reden ›Über die Religion‹ und das Problem ästhetischer Subjektivität, in: Wolfgang Braungart, Gotthard Fuchs, Manfred Koch (Hg.): Religiöse und ästhetische Erfahrung. I: um 1800. München, Wien, Zürich: Schöningh 1997, 149–165

Martin Treml

  • Judentum als Schlüssel zur Religions- und Kulturtheorie, in: Trajekte 8 (2004), 12–15
  • ›Wildes Denken‹ als Theologie (Slavoj Žižek), in: ebd., 47
  • Warburg, ein unbekannter Kontinent, in: Kunsthistoriker aktuell. Zeitschrift des Verbandes österreichischer Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker 20.2 (2003), 5
  • Biographie als Reparation. Geschichte eines ungeschriebenen Buches über Aby Warburg: G. Bings Korrespondenz mit dem Hamburger Senat, in: Süddeutsche Zeitung (8.12.2003), 16 (mit Thomas Meyer)
  • Mimesis in Palästina. Zwei Briefe von Erich Auerbach und Martin Buber, in: Trajekte 2 (2001), 4–7 (mit Karlheinz Barck)

Daniel Weidner

  • Secularization, Scripture, and the Theory of Reading: J. G. Herder and the Old Testament, in: New German Critique 94 (2005), 169–193
  • Säkularisierung als Beobachtung zweiter Ordnung (Niklas Luhmann, Dirk Baecker), in: Trajekte 8 (2004), 46
  • Gershom Scholem. Tradition, Geschichte Philologie, in: K. Hödl (Hg.): Historisches Bewußtsein im jüdischen Kontext. Strategien – Aspekte – Diskurse, Innsbruck u.a.: Studien Verlag 2004, 169–187
  • Zur Rhetorik der Säkularisierung, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 78.1 (2004), 95–132
  • Hieroglyphen und heilige Buchstaben. Herders orientalische Semiotik, in: Herder-Jahrbuch 7 (2004), 45–68
  • ›Menschliche, heilige Sprache‹. Das Hebräische bei Michaelis und Herder, in: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur XCV.2 (2003), 171–206
  • Politik und Ästhetik: Lektüre der Bibel bei Michaelis, Herder und de Wette, in: C. Schulte (Hg.): Hebräische Poesie und Jüdischer Volksgeist. Die Wirkungsgeschichte von Johann Gottfried Herder um Judentum Mittel- und Osteuropas. Hildesheim u.a.: Olms 2003, 35–65
  • Hg.: Franz Rosenzweig: Zur jüdischen Erziehung. Drei Sendschreiben. Berlin: JVB 2002
  • Hg.: Max Wiener: Jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation. Berlin: JVB 2002

Sigrid Weigel

  • Susan Taubes und Hannah Arendt. Zwei jüdische Intellektuelle zwischen Literatur und Philosophie, zwischen Europa und USA, in: A. Huml, M. Rappenecker (Hg.): Jüdische Intellektuelle im 20. Jahrhundert. Literatur- und kulturgeschichtliche Studien. Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, 133–149
  • Die Religionsphilosophin Susan Taubes. ›Negative Theologie‹ als Kulturtheorie der Moderne, in: B. Greiner, Ch. Schmidt (Hg.): Arche Noah. Die Idee der ›Kultur‹ im deutsch-jüdischen Diskurs. Freiburg i. Br.: Rombach 2002, 383–401
  • Securalization and Sacralization, Normalization and Rupture. Kristeva and Arendt on Forgiveness, in: Publications of the Modern Language Association of America 117.2 (March 2002), 320–323
  • Heinrich Heines Geständnisse. Zur Archäologie einer Schreibposition zwischen Confessiones und De L'Allemagne, in: S. Braese (Hg.): Konterbande und Camouflage. Szenen aus der Vor- und Nachgeschichte von Heinrich Heines marranischer Schreibweise. Berlin 2002, 25–41
  • Hg.: Gershom Scholem. Literatur und Rhetorik. Köln: Böhlau 2000 (mit Stéphane Mosès)

Veranstaltungen

Workshop
12.07.2003 – 13.07.2003 · 02.00 Uhr

An der Schwelle von Religion und Wissenschaft. Transfer zwischen Religion und Wissenschaft um 1900

ZfL, Jägerstr. 10/11, 10117 Berlin, Raum 06

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Workshop
16.01.2003 · 15.00 Uhr

Max Wiener. Judentum, Geschichte und Saekularisierung

Centrum Judaicum Berlin, Oranienburger Straße 28/30, 10117 Berlin

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Workshop
31.01.2002 – 01.02.2002 · 01.00 Uhr

Konversion

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Workshop
30.11.2001 – 01.12.2001 · 01.00 Uhr

Übertragung / Übersetzung

Details

Medienecho

08.04.2003
Die dialektische historische Konstellation sichtbar machen

Praktiken der Säkularisierung: Ein Forschungsprojekt über die »Figuren des Sakralen« stellt sich vor. Artikel von Sigrid Weigel, in: Frankfurter Rundschau vom 8.4.2003