Stil und Kitsch um 1900
»Als Giftstoff ist er aller Kunst beigemischt« – mit dieser Einschätzung wendet sich Adorno gegen die Vorstellung, Kitsch sei das Gegenteil von Kunst. Diese geht zurück auf zahlreiche Stil-Diskussionen um 1900, in denen der Begriff des angemessenen literarischen und künstlerischen Stils insbesondere gegen massenhaft und günstig produzierte Kulturwaren aufgeboten wurde, schlicht gegen »so Kitsch« (Stemmle, 1931). Die Diskurse über Stil und Kitsch weisen allerdings vielfältige Berührungspunkte auf: Galt die Fähigkeit zur Nachahmung im Stil-Diskurs um 1800 als wesentliches Kriterium ›guten Stils‹, wurde gerade diese dem Kitsch um 1900 als Epigonalität und mangelnde Originalität vorgeworfen. Auch das Verhältnis zwischen subjektivem künstlerischem Ausdruck und objektivem Wirklichkeitsbezug wurde in beiden Diskursen verhandelt, wobei deren Versöhnung im Kunst-Diskurs als das Höchste galt, während die Harmonisierungs(sehn)sucht des Kitschs als pure Verkaufsstrategie disqualifiziert und zum »äusserste[n] Gegenpol der künstlerisch durchgeistigten Qualitätsarbeit« (Pazaurek, 1912) erklärt wurde.
Das Projekt ging der Verbindung von (Jugend-)Stil, Ästhetizismus, Kitsch und Reklame nach. Geleitet war es einerseits von der Annahme, dass der um die Jahrhundertwende zu beobachtende ›Wille nach Stil‹ (Wustmann, 1915) als Reaktion auf die Produkte der ›Nippes-Industrie‹ und der Unterhaltungsliteratur zu werten und damit als bewusster Abgrenzungs- und Distinktionsversuch zu verstehen ist. Andererseits versuchte das Projekt zu zeigen, wie Kitsch in Kunst, Literatur und Reklame eingewandert ist: inhaltlich über das Jugendpathos, den Kult der Schönheit und Gesundheit und die Verherrlichung eines dynamischen Lebensgefühls; formal über das Ornamentale, das Dekorative und die Oberflächenästhetik. Kitsch war demnach von Beginn an Teil der Stilbestrebungen der Moderne. Die Diskussionen um einen angemessenen Stil sind daher möglicherweise gar nicht ohne den Kitsch als Kippfigur zu verstehen. Das eröffnet nicht zuletzt die Möglichkeit, die Stil-Diskurse der Moderne jenseits von Epochen- und Individualstilen beschreiben zu können.
Abb. oben: Annalise Batista. Quelle: Pixabay.
Publikationen
Neue Nachbarschaften: Stil und Social Media in der Gegenwartsliteratur
Themenheft von Sprache und Literatur
Adornos Lächeln
Das »Glück am Ästhetischen« in seinen literatur- und kulturtheoretischen Essays
Pola Groß
- Mit Stil gegen Stil. Überlegungen zu einer Schlüsselkategorie bei Adorno, in: Wolfgang Fuhrmann, Gabriele Geml, Nikolaus Urbanek (Hg.): Worte ohne Lieder. Von der Sprachästhetik zur ästhetischen Theorie in Adornos musikalischen Schriften (erscheint 2023)
- Pop-Nachbarschaften 3.0: Stil und Milieu bei Joshua Groß, Christian Kracht und Sibylle Berg, in: Stephanie Catani, Christoph Kleinschmidt (Hg.): Popliteratur 3.0? Soziale Medien und Gegenwartsliteratur (mit Hanna Hamel) (erscheint 2023)
- Einleitung: Neue Nachbarschaften: Stil und Social Media in der Gegenwartsliteratur, in: Sprache und Literatur 51.1 (2022) = Neue Nachbarschaften: Stil und Social Media in der Gegenwartsliteratur, hg. von Pola Groß und Hanna Hamel, 1–17 (mit Hanna Hamel)
- »Die Sätze müssen lyrisch gebaut sein, sonst finde ich die nicht gut.« Rhetorik und Stil in der Gegenwartsdramatik von Thomas Köck, Enis Maci und Wolfram Höll, in: Interjekte 14 (2022): Stil und Rhetorik. Ein prekäres Paar und seine Geschichten, hg. von Eva Geulen und Melanie Möller, 78–95
- Stil und Haltung – Wolfgang Kayser, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 140 (2021), Sonderheft: Der Stil der Literaturwissenschaft, hg. von Eva Geulen und Claude Haas, 123–140
- »Eigentümlicher Denkzauber« und »die Aura der Begriffe«. Zum Zusammenhang von (Denk-)Stil, Sprache, Literatur und Interpretation bei Ludwik Fleck, in: Scientia Poetica 24 (2020), 255–288
- Sehnsucht nach Stil (um 1900), in: Faltblatt zum ZfL Jahresthema 2020/21: EPOCHENWENDEN sowie in: ZfL Blog, 18.11.2020
- Neue Nachbarschaften? Stil und Social Media in der Gegenwartsliteratur, in: ZfL Blog, 17.3.2020 (mit Hanna Hamel)
- Stilisierung zum Kuschel-Philosophen. Zur Rezeption von Adornos »Aspekte des neuen Rechtsradikalismus«, in: ZfL Blog, 27.1.2020
Veranstaltungen
Pola Groß: Mit Stil gegen Stil. Überlegungen zu einer Schlüsselkategorie bei Adorno
mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, Anton-von-Webern-Platz 1, 1030 Wien, Hauptgebäude, Bauteil C/Fanny Hensel-Saal
Pola Groß: Mit Stil gegen Stil. Überlegungen zu einer Schlüsselkategorie bei Adorno
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