Urform und Umbildung. Naturvorbilder und das Paradoxon künstlerischer Natürlichkeit
Das Archiv der Universität der Künste Berlin (UdK) beherbergt umfangreiche, einzigartige Bildvorlagen- und Modell-Sammlungen, die von der Mitte des 19. Jahrhunderts an als Muster und Lehrmittel für Unterrichtszwecke hergestellt worden sind. Im Verbund von UdK, ZfL und dem Münchner Stadtmuseum wurden die Bestände in Form einer Ausstellung und im Rahmen eines Digitalisierungskonzeptes sowie in Verbindung mit einer wissenschaftlichen Aufarbeitung zugänglich gemacht. Das ZfL-Teilprojekt »Urform und Umbildung« konzentrierte sich auf die Bildvorlagen von Natur und nahm ausgehend von der Sammlung Karl Blossfeldt einen prominenten und gut dokumentierten Bestand in den Blick. Blossfeldt hatte für den Aufbau einer Lehrmittelsammlung Gips- und Bronzemodelle, Zeichnungen und Fotografien hergestellt und bis 1930 in der Vorgängerinstitution der UdK das Fach »Modellieren nach lebenden Pflanzen« unterrichtet. Das Forschungsprojekt nahm erstmals eine Kontextualisierung der berühmten Pflanzenaufnahmen von Blossfeldt innerhalb anderer Konvolute vegetabiler Vorlagenwerke vor. Damit wurden nicht nur unbekannte Bestände des Archivs erschlossen und gewürdigt, auch die bislang wenig untersuchte Gattung der Bildvorlage als ein spezifischer Typus didaktischer Bildlichkeit geriet in den Fokus der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit. Im Zentrum des Interesses stand die Wissensfigur der Pflanze als Impulsgeberin für gestalterische Prozesse im ausgehenden 19. Jahrhundert.
Da das Projekt methodisch einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten, rückverfolgenden Forschung mit der Gegenwart als Fluchtpunkt verpflichtet war, widmete es sich auch der Gegenwartskunst, die in beispielloser Weise auf den Bilderfundus der Vorlagenwerke zurückgreift. An exemplarischen Positionen konnte aufgezeigt werden, dass die Pflanze in der künstlerischen Rezeption ihr Register gewechselt hat – von der Formgeberin hin zur Metapher für neue Kulturmodelle. Im Kontext komplexer ökologischer Zusammenhänge ist die Pflanze zum Gegenstand alternativer Konzepte geworden, die sich von gängigen Kultur/Natur-Dichotomien unterscheiden: Sie steht für einen kulturellen Wandel von einem instrumentellen zu einem respektvollen Umgang mit der Natur ein. Im Lichte aktueller kunst- und kulturwissenschaftlicher Fragestellungen lieferte das Projekt so einen eigenständigen Beitrag zu den sich derzeit etablierenden, interdisziplinär ausgerichteten Critical Plant Studies. Der Leitgedanke war, dass sich die Kategorie des Vegetabilen in der ständigen Rückbindung an die Praktiken des Kultivierens und der Hervorbringung von Kultur als Modell sozialer, politischer und erzieherischer Auffassungen erweist.
Abb. oben: Karl Blossfeldt, Fotografien von Pflanzen (Gelatinesilberabzüge), Sammlung Karl Blossfeldt, Universität der Künste Berlin, © Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur 2017
- Vorbilder – Nachbilder. Das Fotoarchiv des Künstlers im 19. Jahrhundert (Teilprojekt an der UdK)
- Im Land der Forscher und Sammler (Pressemitteilung des BMBF 14.03.2017 zum Förderprogramm: Vernetzen – Erschließen – Forschen. Allianz für universitäre Sammlungen)
Publikationen
Disziplinierung der Pflanzen
Bildvorlagen zwischen Ästhetik und Zweck
Von Pflanzen und Menschen
Leben auf dem grünen Planeten
Kunstnatur | Naturkunst
Natur in der Kunst nach dem Ende der Natur
Judith Elisabeth Weiss
- Regie der Berührung. Der Garten in der Kunst der Gegenwart, in: Jürgen Weidinger (Hg.): Spuren des Gartens, (erscheint 2021)
- Grüne Natur und »Grauzonen der Kunst«. Über Farbe und Farblosigkeit in der Darstellung von Pflanzen, in: Ausst. Kat. Inventing Nature. Pflanzen in der Kunst. Staatliche Kunsthalle Karlsruhe 2021, 60–65
- Dritte Landschaft. Die zerronnene Zeit des Humanen, in: Zeitschrift für Kunst in Sachsen-Anhalt 4 (2020)
- Weisen der Naturerzeugung. Drei Miniaturen zur Kultur der Pflanze, in: Ausst. Kat. Was ist Natur? Museum Haus Sinclair, Bad Homburg 2020, 103–109
- Die Pflanzen und die »nicht mehr schönen Künste«, in: Digitalis. A Plant Scan Project by Achim Mohné. Berlin: Hatje Cantz 2020, 145–151
- Pflanzenhorror. Vom Paradiesgärtlein zur grünen Hölle, in: Kathrin Meyer, Judith Elisabeth Weiss (hg. im Auftrag des Deutschen Hygiene-Museums Dresden): Von Pflanzen und Menschen. Leben auf dem grünen Planeten. Göttingen: Wallstein 2019, 104–108
- Von Pflanzen und Menschen. Zu einem ungleichen Verhältnis, in: Kathrin Meyer, Judith Elisabeth Weiss (hg. im Auftrag des Deutschen Hygiene-Museums Dresden): Von Pflanzen und Menschen. Leben auf dem grünen Planeten. Göttingen: Wallstein 2019, 11–13
- Christiane Löhr. Die Emanation des Raums und die Beständigkeit des Flüchtigen, in: Kunstforum International 258 (2019) = Kunstnatur|Naturkunst. Natur in der Kunst nach dem Ende der Natur, 124–133
- Guerilla-Gardening, Paradiesgärtlein und planetarischer Garten. Zur Aktualität des Gartens als Metapher und künstlerisches Wirkungsfeld, in: Kunstforum International 258 (2019) = Kunstnatur|Naturkunst. Natur in der Kunst nach dem Ende der Natur, 106–115
- Konstruktionen und Dekonstruktionen des Natürlichen. Eine Bestandsaufnahme von Natur in der Kunst nach dem Ende der Natur, in: Kunstforum International 258 (2019) = Kunstnatur|Naturkunst. Natur in der Kunst nach dem Ende der Natur, 44–85
- Imitation, Illusion, Rückkehr? Primitivismus und Kunst 1900 bis 1950, in: Ausst. Kat. Frobenius – die Kunst des Forschens. Museum Giersch Frankfurt, Petersberg 2019, 87–96
- Ausstellungsbesprechung: Gewächse der Seele. Pflanzenfantasien zwischen Symbolismus und Outsider Art, Wilhelm-Hack-Museum Ludwigshafen, in: Kunstforum International 260 (2019), 270–271
- Rezension: Bernhard Gill, Franziska Torma u. Karin Zachmann (Hg.), Mit Biofakten leben. Sprache und Materialität von Pflanzen und Lebensmitteln, in: Zeitschrift für Technikgeschichte 86.2 (2019), 172–173
- Ausstellungsbesprechung: Garten der irdischen Freuden, Gropius Bau Berlin, in: Kunstforum International 263 (2019), 234–236
- »Über Kunst, Wissenschaft und das Ende der Natur«. Gespräch mit dem Art Laboratory Berlin, in: ZfL Blog, 15.4.2019
- Sichtbarmachung des Sichtbaren. Karl Blossfeldts Pflanzenurkunden, in: Jana Kittelmann (Hg): Botanik und Ästhetik. Annals of the History and Philosophy of Biology. Göttingen: Universitätsverlag Göttingen 2018, 237–252
- Formwanderungen. Bemerkungen zur Ausstellung »Form Follows Flower. Moritz Meurer, Karl Blossfeldt und Co.«, in: ZfL Blog, 15.12.2017
Veranstaltungen
Judith Elisabeth Weiss: Plotting Plants. Karl Blossfeldt im Kontext von Design und Kunst der Gegenwart
Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle, Neuwerk 7, 06108 Halle (Saale), Raum 103/104
Judith Elisabeth Weiss: Regie der Berührung. Sensoren für den Garten in der zeitgenössischen Kunst
Technische Universität Berlin, Straße des 17. Juni 135, 10623 Berlin
Judith Elisabeth Weiss: Paradise Lost. Der Garten in der Kunst
Kunstraum Alexander Bürkle, Robert-Bunsen-Strasse 5, 79108 Freiburg
Vorbilder / Nachbilder. Die fotografischen Sammlungen der Kunstakademie und der Kunstgewerbeschule in Berlin im Dialog, 1850–1932
Museum für Fotografie, Jebensstr. 2–3, 10623 Berlin
Judith Elisabeth Weiss: Sterbendes Licht. Vom Nachtstück zum Schwarzen Bild
Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Hans-Thoma-Straße 2-6, 76133 Karlsruhe
Judith Elisabeth Weiss: »Hiermit trete ich aus der Kunst aus«. Von der Negation im Bild zum Bild der Negation
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Philosophisches Seminargebäude, Kochstraße 6a, 91054 Erlangen, Raum 00.15
Bildvorlagen. Zwischen Ästhetik und Zweck
Archiv der UdK, Einsteinufer 43, 10587 Berlin / ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, 3. Et.
Judith Elisabeth Weiss: Vom Biofakt zum Artefakt. Karl Blossfeldts Pflanzenkunde
Martin-Luther-Universität Halle Wittenberg, Institutsbereich Geobotanik und Botanischer Garten, Am Kirchtor 1, 06108 Halle (Saale), Großer Hörsaal
Medienecho
Radiointerview mit Judith Elisabeth Weiss, in: BR24 (Bayerischer Rundfunk) vom 10.05.2020