Vortrag im Rahmen der Ausstellung »Vom Tagebuch zum Weblog«
13.05.2009 · 21.00 Uhr

"Ein Kulturdenkmal unserer Zeit". Geheimnis und Fälschung im Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens (1919)

Ort: Museum für Kommunikation, Leipziger Str. 16, 10117 Berlin
Organisiert von Anne-Kathrin Reulecke

Programm

Vortragsreihe im Rahmen der Ausstellung "Vom Tagebuch zum Weblog"

Kooperation des ZfL mit dem Museum für Kommunikation Berlin
(April – September 2009)



Zum Vortrag:
Als 1919 im renommierten Internationalen Psychoanalytischen Verlag das anonyme Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens erschien, musste die Öffentlichkeit davon ausgehen, ein authentisches Zeugnis vor sich zu haben. Würdigte doch selbst Sigmund Freud in einem Geleitbrief die Textsammlung als kulturhistorisches Dokument ersten Ranges: „[…] noch niemals hat man in solcher Klarheit und Wahrhaftigkeit in die Seelenregungen hinein-blicken können, welche die Entwicklung des Mädchens unserer Gesellschafts- und Kulturstu-fe in den Jahren der Vorpubertät kennzeichnen.“ Dass sich ausgerechnet das enthusiastisch aufgenommene kulturhistorische Dokument nur wenige Jahre später als eine Fälschung der Herausgeberin, der psychoanalytischen Kindertherapeutin Hermine Hug-Hellmuth, erwies, lässt Rückschlüsse auf die Liaison von Diaristik und früher Psychoanalyse zu. So versprach das Tagebuch, das qua Gattung mit dem Narrativ des persönlichen Geständnisses und mit der Figur des Geheimnisses operiert, in besonderer Weise unverfälschte Wahrheiten zu präsentie-ren. Vor allem aber schienen die intimen ‚Originalaufzeichnungen‘ eines „halbflüggen Mäd-chens aus vornehm-bürgerlicher Familie“ Einblicke in die black box der adoleszenten Seele zu ermöglichen, mit denen Freuds Theorie von der infantilen Sexualität endlich auch empirisch belegt werden konnte.

Anne-Kathrin Reulecke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Deutsche Philologie des Instituts für Literaturwissenschaft der Technischen Universität Berlin.
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