Hannes Bajohr (UC Berkeley): Latenzraum und Erzählung. Weltmodelle in Literatur und KI
»Eine Welt – nichts Geringeres ist Thema und Anspruch des Romans«, proklamierte Hans Blumenberg 1963. Zur selben Zeit war die KI-Forschung, gerade durch erste Rückschläge aus ihrem anfänglichen Enthusiasmus erwacht, damit beschäftigt, die brittleness ihrer Syteme durch ›Weltmodelle‹ zu stabilisieren. Heute konvergieren die ›Welten‹ von Literatur und KI in Großen Sprachmodellen, die nun ihre Latenzräume zur Produktion von Erzählung, gar Romanen verwenden – wenn auch mit (noch) durchmischten Ergebnissen. Inwiefern aber sind die ›Welten‹ von Roman und Latenzraum, ihr world-building und world-making analog zu setzen? Welche produktiven Differenzen und Überschneidungen ergeben sich, wenn man zumindest den Versuch dazu unternimmt? Dieser Vortrag versucht die Idee zu entwickeln, dass strukturierte Assemblagen von Beziehungen, Ereignissen und Inferenzen ein Kontinuum bilden, so dass Fragen nach Kohärenz, Kausalität und Integrität auch in holistischen, aber ›ungeerdeten‹ Strukturen noch sinnvoll zu verwenden sind. Sowohl Romane als auch KI operieren so verstanden innerhalb von Beziehungsgeflechten, die auch noch unter den Bedingungen einer nur ›schwachen Kraft‹ Zusammenhang zu erzeugen vermögen. Gerade diese graduelle Differenz zwischen literarischen und computergestützten Weltmodellen mag die Bedingungen beleuchten, unter denen in zeitgenössischen Erzählformen Bedeutung entsteht – oder eben nicht.
Hannes Bajohr ist Assistant Professor am Department of German der University of California, Berkeley. Er promovierte 2017 mit einer Arbeit zur Sprachphilosophie Hans Blumenbergs an der Columbia University. Von 2017 bis 2019 war Bajohr mit dem Projekt Negative Anthropologie. Geschichte und Potential einer Diskursfigur wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZfL, anschließend hatte er Positionen an der Universität Basel und am Collegium Helveticum inne. Bajohr ist Teil des Textkollektivs 0x0a für digitale konzeptuelle Literatur. Er veröffentlichte mehrere Romane und hielt 2022 die Poetikvorlesung Hildesheim.
Publikationen (Auswahl):
- Hg.: Text+Kritik X (2024), Sonderband: Das Subjekt des Schreibens. Über Große Sprachmodelle (mit Moritz Hiller)
- Digitale Literatur zur Einführung. Hamburg: Junius 2024 (mit Simon Roloff)
- Hg.: Quellcodekritik: Zur Philologie von Algorithmen. Berlin: Matthes & Seitz 2024 (mit Markus Krajewski)
- (Berlin, Miami). Berlin: Matthes & Seitz 2023
- Hg.: Blumenbergs Verfahren. Neue Zugänge zum Werk. Göttingen: Wallstein 2022 (mit Eva Geulen)
- Hg.: Der Anthropos im Anthropozän. Die Wiederkehr des Menschen im Moment seiner vermeintlich endgültigen Verabschiedung. Berlin: de Gruyter 2020
- Halbzeug. Textverarbeitung. Berlin: Suhrkamp 2018