Jenseits der Nostalgie. Neuaneignungen des Spätsozialismus in osteuropäischen Gegenwartskulturen
Tagung der Fachgruppe »Literatur- und Kulturwissenschaft« der DGO (Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde)
Schwankten die ersten postsozialistischen Jahrzehnte noch zwischen kritischer Abrechnung mit der sozialistischen Vergangenheit und diffuser Nostalgie nach einer verloren gegangenen Stabilität, ändert sich das in letzter Zeit. In vielen Bereichen der osteuropäischen Literaturen und Kulturen ist vermehrt eine künstlerische und diskursive Neuaneignung insbesondere der spätsozialistischen Periode zu beobachten, die stark von medialen, populärkulturellen und identitätspolitischen Aspekten geprägt ist. Wenn Boris Groys die postkommunistische Situation als einen Weg zurück aus einer postnationalen Zukunft in die nationalstaatliche Gegenwart charakterisiert, dann wird heutzutage nach Jahren der neoliberalen Transformation und angesichts einer »breit« gewordenen Gegenwart (Hans Ulrich Gumbrecht) umgekehrt die Zeit vor 1989 als ein Raum der verpassten Chancen wiederentdeckt, als die Zukunft noch offen war. Auf ein breites Publikum zielende Fernsehserien, autobiographisch geprägte Familienromane, avancierte Kinofilme genauso wie nationalistische oder religiöse Gegenkulturen und revanchistische Kulturpolitiker rekonstruieren die letzten Jahrzehnte des real existierenden Sozialismus als eine zunehmend fiktionalisierte Spielwiese zur Revision bisheriger Gewissheiten. Die Tagung fragt in vergleichender Perspektive danach, worin diese Faszinationsmomente gründen und in welchen medialen und künstlerischen Formaten sich solche Verschiebungen insbesondere äußern, was auch grundlegende kulturtheoretische Reflexionen in Hinsicht auf ein mögliches Ende der »Ära der Nachahmung« (Ivan Krastev/Stephen Holmes) beinhaltet.
Abb. oben: The Tsoi Wall (Fans an der Gedenkmauer für Wiktor Zoi [1962–1990], den Frontmann der Band Kino, an der Kreuzung von Arbat und Kriwoarbatski-Gasse in Moskau [Ausschnitt]), © reibai, Lizenz CC BY 2.0.
Programm
Donnerstag, 11.11.2021
14.00
- Begrüßung und Eröffnung
14.15
- Magdalena Marszałek (Universität Potsdam): Von Leibeigenen, Bystanders und Menschen: Neuverhandlungen der bäuerlichen Geschichte der polnischen Volksrepublik nach 2000
- Nina Weller (Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)): Mythos der Jugend under deconstruction: Zur Neuaneignung der 1980er Jahre in russ. Film und Literatur der 2000er
16.15
- Zaal Andronikashvili (ZfL): Alles war besser als Bolschewisten! – Lichte Vergangenheit und Dunkle Zukunft in der georgischen Gegenwartsliteratur
- Jeanette Fabian (LMU München): »Eigentlich gibt es Osteuropa gar nicht«. Karel Cudlíns und Jáchym Topols Foto-Geschichten über die (Un)Lust, Osteuropäer zu sein
Freitag, 12.11.2021
10.00
- Barbara Wurm (Humboldt-Universität zu Berlin): The Vanished Empire Strikes Back. Der Spätsozialismus im postsowjetischen Film
- Roman Dubasevych (Universität Greifswald): Reconstructions of Soviet Rock Underground in Contemporary Russian Cinema
12.00
- Otto Boele (Universiteit Leiden): Near-Disasters and »Russkii avos’«. Imagining Soviet »Backwardness« in Recent Russian Cinema
14.30
- Anna Förster (Universität Erfurt): Kitsch und Kulturkampf. Wie die US-amerikanische Rechte ostmitteleuropäische Dissidenten für sich entdeckt
- Boris Buden (Bauhaus-Universität Weimar): Is There a Society After Socialism?
16.30 Abendvortrag (via Zoom)
- Mark Lipovetsky (Columbia University): Better than Nostalgia: Late Socialism in Recent TV series
18.30