Chor-Denken 1
22.06.2021 · 19.00 Uhr

Sebastian Kirsch und Nicolas Siepen: Chor und Wahrsprechen (parrhesia)

Ort: Vierte Welt, Adalbertstr. 4, Galerie 1.OG, 10999 Berlin / Livestream

Veranstaltung in der Reihe »Chor-Denken« im Rahmen des Festivals 10 Jahre Vierte Welt

Ein Betrunkener gebraucht parrhesia, weil er im Weinrausch nicht nur über sich, sondern auch über alle anderen die Wahrheit offenbart.

(Philochoros in Aischylos’ Fragment 11)

Der erste Teil der »Chor-Denken«-Reihe ist möglichen Zusammenhängen zwischen chorischem Sprechen und dem antiken Begriff der parrhesia, des freimütigen »Wahrsprechens«, gewidmet. Diesem Begriff schenkte Michel Foucault in seinen letzten Arbeiten besondere Aufmerksamkeit, wobei seine diesbezüglichen Ausführungen – etwa in »Der Mut zur Wahrheit« – sich durchaus wie ein später Beitrag des Philosophen zur free speech-Bewegung der 68er lesen. So geht es Foucault zufolge bei der parrhesia immer um eine riskante Rede, zum Beispiel um den Mut, dem Tyrannen die Wahrheit ins Gesicht zu sagen oder durch offene Kritik eine Freundschaft auf Spiel zu setzen.

Allerdings handelt es sich bei der parrhesia auch um ein sehr fremdartiges Konzept, dessen Wahrheitsbegriff zum Beispiel ohne Bezug auf eine diskursiv gewonnene Erkenntnis auskommt. Mehr noch: Die Wahrheit der parrhesiastischen Rede bekundet sich laut Foucault häufig auch in schockartigen Inszenierungen, die sich im Zweifelsfall sogar bis zum Selbstmordattentat zu steigern vermögen. Schon deswegen stellt sich die Frage, wie sich Foucaults Überlegungen zur parrhesia 40 Jahre später lesen. Wie ist das Rauschhafte parrhesiastischer Wahrheit einzuschätzen, auf das beispielsweise das obige Zitat des Aischylos hindeutet? Gibt es Verbindungen zwischen parrhesia, Chor und dem von Deleuze/Guattari entwickelten Begriff der »nomadischen Kriegsmaschine«? Und was soll man aus der Tatsache machen, dass sich im 21. Jahrhundert gerade rechte Identitäre gerne als »freimütige Alles-Sager« inszenieren?

Der Theaterwissenschaftler Sebastian Kirsch ist Feodor Lynen-Forschungsstipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung mit dem Projekt Umgebungswissen der Theatermoderne. Milieu – Umwelt – Environment / Hauptmann – Appia – Kiesler.

Nicolas Siepen ist Künstler/Filmemacher, Theoretiker und Mitbegründer von b_books und dem Performing Arts Forum (PAF).

Programm

Weitere Veranstaltungen in der Reihe »Chor-Denken«

Samstag, 25.9.2021, 19.00

Sonntag, 17.10.2021, 19.00