Umgebungswissen der Theatermoderne. Milieu – Umwelt – Environment / Hauptmann – Appia – Kiesler

Das an den Schnittstellen von Theater-, Literatur- und Medienwissenschaft angesiedelte Projekt knüpfte an jüngste Neufokussierungen historischer Umgebungsdiskurse an, um einen neuen Blick auf die ›Theatermoderne‹ zwischen Naturalismus und historischen Avantgarden zu ermöglichen und ihr Nachleben neu zu befragen. Der spezifische Einsatz lag darin, ausgewählte Bühnen- und Theaterformen der Jahrhundertschwelle und des frühen 20. Jahrhunderts im Kontext von Milieu, Umwelt und Environment als drei zu unterscheidende ›Epistemologien des Umgebens‹ (Florian Sprenger) zu situieren. Diese drei lebenswissenschaftlichen Diskurstraditionen differieren insofern, als dass sie je unterschiedliche Einschätzungen von Momenten der Offenheit und der Zentrierung sowie der Autonomie und der Fremdbestimmung in der Relation von ›Umgebenem‹ und ›Umgebendem‹ vornehmen.

In dem Projekt ging es darum, die Diskurstraditionen entsprechend mit szenischen Arbeiten von Gerhart Hauptmann (Milieu), Adolphe Appia (Umwelt) und Frederick Kiesler (Environment) zu verknüpfen. Ebenso wurden die unterschiedlichen politischen Übersetzbarkeiten der drei Umgebungskonzepte in den Blick genommen, die zwischen Sozialdemokratie/Sozialismus, völkischen/volksgemeinschaftlichen Programmen und frühen Neoliberalismen oszillieren. Auf diesem Weg wurde schließlich eine neue Perspektive auf die politische Vereinnahmbarkeit und/oder Widerständigkeit der historischen Avantgarden entwickelt, das heißt auf ihre partielle Solidarität mit totalitären Regimen, aber auch auf ihre etwaige Nähe zu neoliberalen (Selbst-)Steuerungsdiskursen.

Im Einzelnen wurde zunächst am Beispiel von Stücken wie Vor Sonnenaufgang (1889) und Vor Sonnenuntergang (1932) untersucht, inwiefern Hauptmanns naturalistische Theaterästhetik in einer Weise mit zeittypischen Milieutheorien verquickt ist, die sie nicht notwendig auf die Kriterien des Bildes und der Bildbühne festlegt (wie das im Rahmen eines Fortschrittsmodells bis heute behauptet wird, das den Naturalismus von vermeintlich ›progressiveren‹ Ästhetiken überwunden sieht). Gerade seine exponierten Ansteckungsdiskurse, aber auch seine ausgeprägte ›Solarität‹ (Juliane Vogel) lassen den Naturalismus aber als spezifischen Versuch erscheinen, relationale, im vollumfänglichen Sinn des Milieu-Begriffs ›zwischen-räumliche‹ Körpergeflechte szenisch zu fassen.

Die ›Rhythmischen Räume‹ des in Hellerau tätigen Szenographen und Theaterreformers Appia dagegen wurden in ihrer besonderen Nähe zu zeitgenössischen Umweltdiskursen fokussiert. Ausgangspunkt war dabei die erst von der neuesten Appia-Forschung (so bei Jörn Etzold) thematisierte erstaunliche Nachbarschaft, die Appias ausdrücklich postkantianisches Raumverständnis mit jenem Umweltbegriff unterhält, der in Jakob von Uexkülls Umwelt und Innenwelt der Tiere (1909) diskursbegründend in die Biologie eingeführt wurde.

Die Bühnenentwürfe und das ›Endless Theatre‹ von Frederick Kiesler schließlich wurden dahingehend befragt, inwiefern sich in ihnen ein frühes Denken von Regelkreisläufen und Feedbacks manifestiert, das auf heutige smarte Umgebungen vorausweist und auch den ›endlosen‹ Charakter des Internets vorwegnimmt. Speziell Kieslers Überlegungen zum ›technological environment‹ und dessen ›biotechnischen‹ Wechselwirkungen mit menschlichen Lebewesen sowie seine Utopie eines Theaters als »universelle Kommunikationsmaschine, [die] nicht das Leben illustriert, sondern gestaltet« (Kiesler), wurden dabei neu in den Blick genommen.

Feodor Lynen-Rückkehrstipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung 2021
Leitung: Sebastian Kirsch

Publikationen

Sebastian Kirsch

  • Street Smart or Smart Street? Theater and environmental power, in: Performance Philosophy 7.1 (2022), 66–83
  • »… da guckt ja der Überfluß wirklich aus Türen und Fenstern«. Re-Reading Gerhart Hauptmann with James Beniger, in: Mathias Denecke, Holger Kuhn, Milan Stürmer (Hg.): Liquidity, Flows, Circulation: The Cultural Logic of Environmentalization (erscheint 2022 bei Diaphanes)
  • »… eine dichte Cellonblase, gespannt von Bergspitze zu Bergspitze ...«. Zu einer environmentalen Neulektüre von Hermann Brochs Verzauberung, in: Weimarer Beiträge 1 (2021), 48–69

Veranstaltungen

Symposium zum 20. Todestag von Einar Schleef
12.11.2021 – 13.11.2021

Alexander Kerlin und Sebastian Kirsch: Das Kraftwerk

Burgtheater Wien

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Chor-Denken 3
17.10.2021 · 19.00 Uhr

Sebastian Kirsch und Ulrike Haß: Chor und Sorge

Vierte Welt, Adalbertstr. 4, Galerie 1.OG, 10999 Berlin / Livestream

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Workshop
09.10.2021 – 10.10.2021

Sebastian Kirsch, Maud Meyzaud u.a.: Die Bühne der Vielen

Ringlokschuppen, Am Schloß Broich 38, 45479 Mülheim an der Ruhr

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Chor-Denken 2
25.09.2021 · 19.00 Uhr

Sebastian Kirsch und Evelyn Annuß: Chor und Technik

Vierte Welt, Adalbertstr. 4, Galerie 1.OG, 10999 Berlin / ggf. Livestream

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Chor-Denken 1
22.06.2021 · 19.00 Uhr

Sebastian Kirsch und Nicolas Siepen: Chor und Wahrsprechen (parrhesia)

Vierte Welt, Adalbertstr. 4, Galerie 1.OG, 10999 Berlin / Livestream

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Vortrag
23.04.2021 · 16.00 Uhr

Sebastian Kirsch: »Where the sun does not come, there the doctor comes«: Naturalism as Scenic Ecology

online

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Beiträge

17.10.2021 Video
»Chor und Sorge«
Gespräch zwischen Sebastian Kirsch und Ulrike Haß in der Reihe »Chor-Denken« im Rahmen des Festivals »10 Jahre Vierte Welt«.
© Vierte Welt

25.9.2021 Video
»Chor und Technik«
Gespräch zwischen Sebastian Kirsch und Evelyn Annuß in der Reihe »Chor-Denken« im Rahmen des Festivals »10 Jahre Vierte Welt«.
© Vierte Welt

22.6.2021 Video
»Chor und Wahrsprechen (parrhesia)«
Vortrag von Sebastian Kirsch und anschließendes Gespräch mit Nicolas Siepen in der Reihe »Chor-Denken« im Rahmen des Festivals »10 Jahre Vierte Welt«.
© Vierte Welt