Tatjana Petzer: Ausgraben, Ausforschen, Auslegen. Danilo Kišs Arbeit am Dokument
Vortrag im Rahmen des Panels »Formen des Dokumentarischen in osteuropäischer Nachkriegsliteratur«, organisiert von Clemens Günther (FU Berlin) und Matthias Schwartz (ZfL Berlin), auf dem 13. Deutschen Slavistentag 2019 an der Universität Trier
Shoah und Gulag haben dem Schriftsteller, so Danilo Kiš, die Verpflichtung zum Dokumentarischen auferlegt. Er selbst verstand seinen dokumentarischen Ansatz als ›antiromantisches, antipoetisches Prinzip‹ von Registratur und Archiv, Evidenz und Zeugenschaft. Durch die Ermittlung und Interpretation von Dokumenten – mittels Methoden der (literarischen) Geologie, Archäologie, Kriminologie und der jüdischen Hermeneutik – wird ein authentisches Dokument in der Literatur, also eine parallele, vom Autor verantwortete Faktizität erschaffen. Die Fingiertheit eines Dokuments gründet dabei keineswegs auf der Prämisse, den Leser zu täuschen oder diesen zu verleiten, den literarischen Text im Rezeptionsprozess in ein beliebiges Spiel der Zeichen aufzulösen. Kišs Gesamtwerk erweist sich vielmehr als Suche nach einer literarischen Form, in der eine Gesamtheit von Dokumenten zu einem einzigen Zeugnis, das dem »Prüfstein der Fakten« standhält und in sich die aus der Geschichte gewonnene Quintessenz konzentriert, verdichtet wird. Exemplarisch dafür und als ein prominentes Verfahren der Sondierung, Verfremdung und Überformung wird die doppelte Tradierung des Dokuments als unveränderbares Zeichen, als documentum ›Beweis‹, und als kommentierendes Supplement, im Sinne von docēre ›Belehrung‹, herausgestellt.
Tatjana Petzer ist Literaturwissenschaftlerin/Slawistin und Dilthey-Fellow mit dem Projekt Wissensgeschichte der Synergie.