Ultravision. Zum Wissenschaftsverständnis der künstlerischen Avantgarden, 1910–1930
Programm
Bildende Künste adressieren die Wahrnehmung. Als sich im 19. Jahrhundert
auch die Physiologie, Psychologie, Psychophysik und Psychotechnik
derselben annahmen und begannen, sie zu vermessen und zu trainieren,
bildeten sich Bündnisse sowohl hin zu den technisch präformierten
Visualisierungsverfahren als auch zu den Erkenntnisinteressen der
zeitgenössischen Lebenswissenschaften. Es entstand eine Situation, die
sich durch den Austausch von Ideen, Apparaten, Fragestellungen,
Lehrprogrammen und Praktiken insbesondere zwischen Avantgarde-Künstlern
und Lebenswissenschaftlern kennzeichnen lässt.
In diesem Sinne
sollen für die Arbeitstagung "Ultravision" die Themen, Praktiken, Werke,
Methoden und Institutionen der Künstlerischen Avantgarde zwischen 1910
und 1930 als eine groß angelegte Experimentalanordnung der
Sinneskulturen und Wahrnehmungsweisen untersucht werden. Mit dieser
Perspektive rückt die Frage nach dem Künstlerischen Forschen im
Vergleich zu den Erkenntnisweisen der Lebenswissenschaften in den Fokus.
Geht
man mithin davon aus, dass das künstlerische Wissen dem
wissenschaftlichen Wissen vergleichbare Kompetenzansprüche artikulierte,
stellt sich die Frage nach seinem epistemischen Status. Der Mehrwert
künstlerischer Arbeit und ihre spezifische Erkenntnisweise, d.h. ihr
Beitrag zu und ihre Intervention in die wissenschaftlichen Diskurse
sollen im Zentrum der Vorträge und Diskussionen stehen. Mit Blick auf
den gewählten Zeitraum und den skizzierten Themenhorizont sind dabei
folgende Fragestellungen besonders zu berücksichtigen:
- Wie definierte sich das spezifische Wissen der Künste?
-
Welche Theorien wurden von Künstlern entwickelt, um ihr spezifisches
Wissen in Zusammenhang zu den Lebenswissenschaften zu bringen?
-
Welche Methoden und Verfahren wurden vom Künstler für seine Tätigkeit
gewählt und welchen Einfluss hatten diese auf den jeweiligen
Erkenntnisgewinn?
- Hatte der Austausch zwischen Künstlern und
Wissenschaftlern Folgen für beider Fragestellungen,
Experimentalanordnungen und Erklärungen?
- Auf welche
experimentellen Wissenschaften bezogen sich die Künste und umgekehrt,
welche Möglichkeiten boten die Künste diesen Wissenschaften?
-
Inwiefern wirkten sich die künstlerischen Experimente und etwaige
Synergieeffekte durch kooperierende Disziplinen tatsächlich auf die
Bild- und Textproduktion der Zeit aus und mit welchen Konsequenzen für
die klassische Trias Künstler-Werk-Betrachter?
- Und schließlich, wie verhielt sich all dies zu den Leitmedien der Zeit - Photographie und Film?
Die
Arbeitstagung will den verschiedenen Transfers von praktischem und
theoretischem Wissen zwischen Künstlern und Wissenschaftlern nachgehen,
um zu sehen, welche Praktiken in welchen Disziplinen angewandt wurden,
um mit ihnen die Wahrnehmung zu analysieren.
Donnerstag, 29.3.2007
14:00 Uhr Begrüßung/Einführung: Sabine Flach, Margarete Vöhringer (beide ZfL Berlin)
15:00 Uhr HÖREN + SEHEN I (Moderation: Justus Fetscher, ZfL Berlin)
Margareta Tillberg (MPIWG Berlin): 360° Extended Vision. M. Matiushin's Perception Experiments in 1920s Leningrad.
Julia Kursell (MPIWG Berlin): Virtuoses Spiel. Zu N. A. Bernsteins Psychophysiologie des Klaviers.
17:00 Uhr HÖREN + SEHEN II (Moderation: Katrin Solhdju, ZfL Berlin)
Lars Blunck (Institut für Kunstgeschichte, TU Berlin): 'Points de vue' - Überlegungen zu Marcel Duchamps Präzisionsoptik.
Otniel Dror (Hebrew University of Jerusalem): Technologies of the Blush and the Visualization of Emotions.
Freitag, 30.3.2007
10:00 Uhr DYNAMISCHES SEHEN (Moderation: Inge Münz-Koenen, ZfL Berlin)
Vorträge mit Filmpräsentation
Margarete Vöhringer (ZfL Berlin): Auto-Lenkrad und Kino-Wahrheit - Dziga Vertov im Kontext der Arbeitswissenschaften.
Oksana Bulgakova (ZfL Berlin): Bewegung Sprache Film: Über die Zusammenarbeit von Sergej Eisenstein und Alexander Luria.
14:00 Uhr SYNÄSTHESIE (Moderation: Christina Pareigis, ZfL Berlin)
Birgit
Schneider (Helmholtz Zentrum für Kulturtechnik, HU Berlin): Interferenz
der Sinne. Ton-Bild-Experimente in Kunst und Technik um 1925.
Cornelius Borck (McGill University, Montreal): Sinnesmontage. Zu Raoul Hausmanns Prothesenvision.
15:30 Uhr INTUITION (Moderation: Martin Treml, ZfL Berlin)
Karin Leonhard (Institut für Kunstgeschichte KU Eichstätt-Ingolstadt): Klima-Räume: Kandinsky und die Biometeorologie.
Ohad Parnes (ZfL Berlin): The Invention of Intuition 1900-1930.
19:00 Uhr ABENDVORTRAG (Moderation: Sabine Flach, ZfL Berlin)
Linda
Dalrymple-Henderson (University of Texas, Austin): Objects of
'Ultravision': The Fourth Dimension and the Ether of Space as the
Meta-Realities of Modernism.
Samstag, 31.3.2007
10:00 Uhr OPTISCH UNBEWUSSTES (Moderation: Uwe Wirth, ZfL Berlin)
"Damit
die alte Vorstellung vom Maler schwindet und an dessen Stelle der Maler
als Wissenschaftler tritt". Kasimir Malevich und die
Wahrnehmungswissenschaft seiner Zeit.
Alexandré Métraux (Universität Zürich / Otto-Selz-Institut der Universität Mannheim) - Teil 1
Sabine Flach (ZfL Berlin) - Teil 2
12:00 Uhr TELEPATHIE/ GEDANKENEXPERIMENTE (Moderation: Peter Berz, Berlin)
Ute
Holl (Institut für deutsche Literatur, HU Berlin): Eine Lehre von den
Reflexen als politische Topologie. Zu Vladimir von Bechterevs objektiver
Psychologie.
Vladimir Velminski (Helmholtz Zentrum für
Kulturtechnik, HU Berlin): Die Macht der Gedanken. Interferenzen
zwischen Literatur und Telepathie
15:00 Uhr Abschlusskommentar (Moderation: Margarete Vöhringer, ZfL Berlin)
Carlo Barck (ZfL Berlin)
Ende: 16:30 Uhr