Verlust und Vielfalt. Zur Parallele von Artenschutz und Denkmalschutz um 1900
Die große Wertschätzung von biologischer und kultureller Vielfalt in der Gegenwart hat eine ihrer Quellen in der Erfahrung einer beispiellosen Dynamik des Verlusts. Zahlreiche Tier- und Pflanzenarten sind durch den Menschen in ihren Populationen massiv reduziert oder sogar unwiederbringlich ausgerottet worden. Die Veränderung sowohl der natürlichen als auch der sozialen Lebensverhältnisse wird dabei häufig als eine historisch einmalige Uniformierung beschrieben. Parallel dazu wird Vielfalt zu einem zentralen Motiv von ökologischen und sozialen Strömungen – wenn auch aus sehr unterschiedlichen Gründen: von Forderungen nach dem Erhalt der Lebensgrundlagen bis hin zu Motiven sozialer Gerechtigkeit oder der Steigerung ökonomischer Effizienz durch ein diversity management.
Diese Konstellation besteht problemgeschichtlich seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Denn seit dieser Zeit ist das Erleben von Verlust eng mit einem Lob der Vielfalt verbunden. Für das Mensch-Natur-Verhältnis geht damit eine markante Zäsur einher: Beendet wird mit ihr der Fortschrittsoptimismus und der Glaube an den Kultivierungsauftrag des Menschen. Mit frühen ökologischen Einsichten in die fragile Eigendynamik natürlicher Systeme entsteht zu dieser Zeit die Forderung nach Erhalt dieser Systeme und deren Vielfalt um ihrer selbst und um des Lebens auf der Erde willen. Um 1900 hat sich diese Konstellation insoweit gefestigt, als sie mit dem Natur- und Denkmalschutz zu politischen Programmen sowie institutionellen Formen findet. Bemerkenswert dabei ist, dass der Artenschutz auf sehr ähnliche Figuren der Argumentation zurückgreift wie der Denkmalschutz. Verbunden sind diese Bewegungen mit einem tiefgehenden Misstrauen gegenüber der Fähigkeit des Menschen, die Welt dauerhaft gestalten zu können. ›Vielfalt‹ ist seitdem ein Signum für den Vorbehalt der westlichen Kultur gegenüber sich selbst. Der Begriff steht für einen Bruch im Fortschrittsnarrativ und markiert das verdrängte oder marginalisierte Andere der dominanten Entwicklungsrichtung.
Der Workshop fragt nach den Formen der Verknüpfung von Verlust und Vielfalt in der Zeit um 1900. Im Zentrum sollen dabei die gedanklichen und narrativen Voraussetzungen dieser Verknüpfung in Philosophie, Wissenschaft und Literatur stehen: Wie wird der Verlust konkret erfahren und beschrieben? Vor welchem Hintergrund und mit welchen Kriterien wird er bewertet? Welche Rolle spielen Argumente, die auf den Wert der Vielfalt zielen? Ist es primär die Vergangenheit, die als vielfältiger imaginiert wird? Welche Erwartungen verbinden sich mit der Vielfalt? Das Ziel des Workshops ist es, das ökologische Imaginäre anhand der Frühphase des Artenschutzes und des Denkmalschutzes aufzuspüren.
Abb. oben: »Feldflur« (Ausschnitt), nach einer Zeichnung von Walter Strich-Chapell, in: Eugen Gradmann: Heimatschutz und Landschaftspflege. Stuttgart: Strecker & Schröder 1910.
Programm
Donnerstag, 6.10.2022
11.15
- Leander Scholz und Georg Toepfer (beide ZfL): Einführung
11.30
- Friedemann Schmoll (Friedrich-Schiller-Universität Jena): Erinnerung an die Natur. Verlust, Aussterben und Denkmalbewusstsein um 1900
14.00
- Nils M. Franke (Universität Leipzig): Das Missverständnis: Legitimationsmacht und Legitimationsmuster im Arten- und Denkmalschutz um 1900
15.00
- Rita Gudermann (Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung, Erkner): Landschaftsproduktion und Landschaftskonsumption. Ländliche Bevölkerung im Spannungsfeld ökonomischer Notwendigkeiten und sozialer Zwänge
16.30
- Birgit Schneider (Universität Potsdam): Einmaligkeit in der Vielfalt. Bäume als Naturdenkmale in Berlin 1900–1930
Freitag, 7.10.2022
9.30
- Ingrid Scheurmann (TU Dortmund): NaturDenkmalpflege. Zur Erhaltung des Besonderen, Stimmungsvollen und Malerischen um 1900
11.00
- Martina Oeter und Alexandra Skedzuhn-Safir (Parsberg/BTU Cottbus): Lasst uns das Wilde und Ursprüngliche schützen. Natur- und Denkmalschutz um 1900
12.00
- Christina Wessely (Leuphana Universität Lüneburg): Das Ganze der Natur und das Ganze der Nation: Ökologische Wissenformen ca. 1871
14.30
-
Eva Geulen (ZfL): ›Friends of Laphroaig‹: Vorfahren und Nachfahren im Moor
15.30
- Tanja van Hoorn (Ruhr-Universität Bochum): Zweifel im Naturgürtel, »[k]ein Bild aus dem Märchen«. Imaginationen bedrohter Vielfalt um 1900
17.00
- Ulrike Vedder (HU Berlin): Im Naturkundemuseum: Retten, Sammeln, Ausstellen, Erzählen