Das europäische Subjekt und der ›Homo sovieticus‹
Das Projekt untersuchte diskursive Strategien und Praktiken der kulturellen Produktion eines spezifisch ›europäischen Subjekts‹ im Hinblick auf die Konstruktion des ›Homo sovieticus‹ (A. Sinov’ev).
Der Sowjetkultur galt das Subjekt als problematisch. In der neueren Forschung wird eine kontroverse Debatte darüber geführt, ob es gerechtfertigt ist, mit Kategorien wie ›sowjetisches Subjekt‹ oder ›sowjetische Subjektivität‹ zu arbeiten. Einerseits wird – im Anschluss an Hannah Arendts These von einer »völlig(en) Atomisierung der russischen Massengesellschaft« – die These von der Unmöglichkeit des Persönlichen als einer Wertstruktur und von einem »Prozess der Subjektivitätsverdrängung« (B. Dubin) in der Sowjetkultur vertreten. In die gleiche Richtung zielt auch O. Charchordins Diagnose, die Sowjetunion sei ein Land »erzwungener Individualisten«. Andererseits werden autobiographische Texte, Tagebücher, Briefe u.a. Dokumente der »Arbeit am Selbst« (vor allem aus den 1920er–1930er Jahren) als eine Art Laboratorium der ›sowjetischen Subjektivität‹ betrachtet (J. Hellbeck, I. Halfin u.a.). Vor dem Hintergrund der historischen Tatsache, dass die Sowjetkultur als ein genuin kollektives utopisches Projekt auf eine Mobilisierung der Menschen setzte, sind in den letzten Jahren zunehmend bestimmte Formen und Praktiken der Interaktion des Einzelnen mit den machtpolitisch gesteuerten Identitätsangeboten ins Blickfeld historischer und kulturwissenschaftlicher Forschungen gerückt.
Das spezifische Erkenntnisinteresse des Projekts setzte an dieser Stelle ein und untersuchte an ausgewählten Beispielen und im Zusammenspiel georgisch-sowjetischer wie russisch-sowjetischer Perspektiven zwei Schwerpunkte:
- die Konstituierung der Figur des (sowjetischen) Kulturheros. Anknüpfend an bisherige Forschungen zur sowjetischen Modernisierung im Hinblick auf den Diskurs des Nationalen und an erste Überlegungen zum Kulturheros als einer Figur, die in unterschiedlichen historisch-kulturellen und medialen Konstellationen politisch-ideologische wie auch sakrale Züge annehmen kann (Workshop 2010), wurde speziell nach den sinnstiftenden und mobilisierenden Funktionen des Kulturheros für die kulturelle Produktion des ›neuen sowjetischen Menschen‹ gefragt. Dabei wurden medienspezifische Strategien der Heroisierung ebenso untersucht wie das Nachleben antiker Muster oder Figuren (etwa der Figur des Prometheus).
- Formen und Praktiken einer sowjetischen Éducation sentimentale. Zur kulturellen Arbeit am ›sowjetischen Subjekt‹ gehört auch die mit der Etablierung des stalinistischen Systems einsetzende systematische Steuerung und Konvertierung emotionaler Energien wie beispielsweise von Trauer zu Triumph (insbesonders die Trauer um die Opfer im Krieg in Optimismus und Pathosformeln des Stolzes). Diese sowjetische Form der éducation sentimentale ist nach wie vor weitgehend unerforscht. Gefragt wurde danach, wie die Gefühlswelt des ›Homo sovieticus‹ beschaffen ist und mit welchen Operationen ›sowjetische‹ Gefühle vermittelt, erzogen, praktiziert und repräsentiert wurden.
Die Untersuchungen wurden u.a. durch folgende Leitfragen strukturiert: Wie wird ›das sowjetische Subjekt‹ in Literatur, Film (Plakaten) entworfen und repräsentiert? Mit welchen Attributen, Gefühlen und Handlungsspielräumen wird es ausgestattet? Wie verhält es sich zum Konzept des ›neuen Menschen‹? Mit welchen Praktiken und Operationen soll der Einzelne ›an sich selbst arbeiten‹, um zu einem ›neuen‹, einem ›sowjetischen Menschen‹ zu werden? Wie geht der Einzelne in autobiographischen Selbstzeugnissen mit sich selbst um, angesichts einer Kultur, die sich nach außen (im Bereich des öffentlich Sichtbaren) mit Triumph, Jubel, Glück und Optimismus gleichsetzt?
Publikationen
Kulturheros
Genealogien. Konstellationen. Praktiken
Freundschaft
Konzepte und Praktiken in der Sowjetunion und im kulturellen Vergleich
Veranstaltungen
Von Trauer zu Triumph. Praktiken einer sowjetischen Éducation sentimentale im kulturellen Vergleich
ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, 3. Et., Seminarraum 303
Freundschaft. Konzepte und Praktiken in der Sowjetunion und im kulturellen Vergleich
Staatliche Ilia-Universität Tbilissi, Kakutsa Cholokashvili 3/5, Tbilissi 0162, Georgien