Jacob Taubes im Kontext. Religionsphilosophie in Deutschland nach 1945

Die Berufung des Philosophen und ordinierten Rabbiners Jacob Taubes an die Freie Universität Berlin und die Etablierung seiner aus den USA importierten interdisziplinären Hermeneutik als Religionsphilosophie markierten den Ausgangspunkt dieser Untersuchung zur intellektuellen Gründungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland nach 1945. Taubes wurde dabei nicht als singuläre Figur verstanden, sondern diente als Paradigma innerhalb des Kontextes der Religionsphilosophie nach 1945. Eine wichtige Grundlage für diese Forschungen stellte sein Nachlass dar, der sich am ZfL befindet und seit über einem Jahrzehnt kontinuierlich durch Dokumente aus Nachlässen Zweiter und Dritter erweitert worden ist, so dass sich ein immer dichteres Bild intellektueller Netzwerke von den 1960er bis zu den frühen 1980er Jahren ergibt.

Die Religionsphilosophie – hier nicht als Unterdisziplin von Philosophie oder Theologie verstanden – markiert in Deutschland nach 1945 eine doppelte Leerstelle. Es ist die einer Wunde, des Ausschlusses der jüdischen Theoretiker nach 1933 durch Gleichschaltung der Wissenschaft und durch das Exil, aber auch die eines blinden Flecks der Geisteswissenschaften, die den Fragen nach den kultischen Grundlagen der Kultur und dem Nachleben der Religion in der Moderne als wirkmächtiger Unterströmung bisher ausgewichen sind. In dieser Situation wurden zentrale Zusammenhänge durch das langsam wachsende Interesse an der jüdischen Philosophie und Religionskultur mit der (Wieder-)Begründung der Religionsphilosophie als eigener interdisziplinärer Konstellation erneut in das Zentrum theoretischer Debatten und den kulturkritischen Diskurs gerückt. Hinzu kamen weitere Impulse vor allem aus den USA und Frankreich. In dieser durchaus auch als existentiell erlebten Situation wuchs das Interesse an Problemstellungen der Religion, ihrer theologischen und philosophischen Durchdringung. Nicht zuletzt Hans Blumenbergs Aufsätze und Vorträge markieren dies. Blumenberg freilich ging es in seinen Arbeiten um den Erweis der philosophischen Gehalte theologischen Denkens, die in theoriegeschichtlichen Rekonstruktionen wieder hervorgeholt werden sollten. Jacob Taubes’ kritische Intervention zielte in die Gegenrichtung: Sein Erkenntnisinteresse richtete sich auf die fortdauernde reale Präsenz religiöser Gehalte vor allem von Judentum, Urchristentum, Gnosis sowie ihrer Potentiale und Wiederkehr in der intellektuellen wie auch der politischen Geschichte. Signifikante Daten dafür sind aber ebenso die Re-Etablierung der Kritischen Theorie durch Max Horkheimer und Theodor W. Adorno an der Universität Frankfurt seit 1949 wie auch die Berufung Eric Voegelins auf den Lehrstuhl Max Webers an der Münchener Universität im Jahre 1958 oder die von Hans Joachim Schoeps als Professor und Vorstand des Seminars für Religions- und Geistesgeschichte der Universität Erlangen 1950. Damit ist auch ein breites politisches Spektrum von links über konservativ bis ganz recht abgedeckt. Auch die auf den ersten Blick so ephemeren Ereignisse wie die Einladungen Gershom Scholems durch Peter Szondi an das 1965 an der Freien Universität Berlin gegründete Institut für Komparatistik und die 1962 erfolgte Berufung von Jacob Taubes dorthin trugen zur Etablierung der Religionsphilosophie im weitesten (Szondi) oder engsten Sinn (Taubes) bei. Sie beide wirkten mächtig in der Rückführung der exilierten Theorien, Taubes darüber hinaus an der Etablierung einer Philosophie, deren zentrales Thema das religiöse Substrat bildet, von dem die ›reine‹ Philosophie lediglich zehrt, das aber für sie als Philosophie irreduzibel bleibt. Leitend hierfür ist in der Perspektive einer intellektuellen Geschichte religionsphilosophischen Denkens der Versuch, nach dem Bruch durch den Nationalsozialismus und dem Kriegsende an intellektuelle Debatten und Traditionen der Weimarer Zeit anzuknüpfen und deren Stand über viele Fronten hinweg wiederzugewinnen. Zentrum ist dabei die zerstörte und geteilte Hauptstadt, Berlin, mit der von Studenten wesentlich mitbegründeten Freien Universität als dem Ort, an dem die Religionsphilosophie auch institutionell verankert werden sollte. Dort wurde seit 1948 Religionswissenschaft außerhalb der Theologien gelehrt – bis heute ein Unikum in der Bundesrepublik –, mit denen sie, ebenso wie die 1963 an der FU begründete Judaistik, als »Aufarbeitungswissenschaft des NS« (Klaus Heinrich) firmierte. In drei Schüben, 1961, nach 1968 und nochmals um 1980, wurden dafür auch personell weitreichende Entscheidungen getroffen: durch die Berufungen von Jacob Taubes (Judaistik bis 1979, Religionssoziologie und Institut für Hermeneutik), Carsten Colpe (Religionsgeschichte am Institut für Evangelische Theologie) und Klaus Heinrich (Religionswissenschaft auf religionsphilosophischer Grundlage) sowie innerhalb der Philosophie von Michael Theunissen und Karlfried Gründer.

Das Projekt hat für den Bereich religionsphilosophischen Denkens auch einen Beitrag zur Diskussion über die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik geleistet. Im Mittelpunkt standen dabei nicht die großen Werke, sondern die Entwürfe und Projekte, nicht nur die Interventionen in öffentlichen Debatten, sondern auch die Korrespondenzen. Dieser Ansatz erlaubte außer einem Blick in die Werkstatt des Denkens vor allem auch ein Erfassen dessen, was liegen geblieben ist, mitunter aber latent weiter und unter Umständen sogar stärker wirksam war als die opera magna. Das Projekt unternahm damit innerhalb seines Gegenstandsbereichs auch den Versuch, die Funktion »kleiner Formen« in der Theoriebildung zu thematisieren.

Programmförderung Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) 2014–2018
Leitung: Martin Treml
Bearbeitung: Herbert Kopp-Oberstebrink

 

Siehe auch:
ZfL-Projekt Briefe von und an Jacob Taubes (2008–2013)

Publikationen

Herbert Kopp-Oberstebrink, Hartmut von Sass (Hg.)

Depeche Mode
Jacob Taubes between Politics, Philosophy, and Religion

Supplements to The Journal of Jewish Thought and Philosophy Bd. 23
Brill, Leiden 2022, 218 Seiten
ISBN 978-90- 04-50509-4 (Print); 978-90- 04-50510-0 (PDF)
Herbert Kopp-Oberstebrink, Martin Treml (Hg.)
unter Mitarbeit von Theresia Heuer und Anja Schipke

Jacob Taubes: Apokalypse und Politik
Aufsätze, Kritiken und kleinere Schriften

Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2017, 446 Seiten
ISBN 978-3-7705-6056-1

Herbert Kopp-Oberstebrink

Martin Treml

Veranstaltungen

Buchvorstellung und Diskussion
05.03.2018 · 19.00 Uhr

Apokalypse und Politik. Jacob Taubes und die Folgen

Katholische Akademie in Berlin e.V., Hannoversche Str. 5, 10115 Berlin

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Workshop am IFK Wien
06.04.2017 · 14.00 Uhr

Apokalypse und Politik. Zur Aktualität von Jacob Taubes

IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften/Kunstuniversität Linz in Wien, Reichsratsstr. 17, 1010 Wien (Österreich)

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Medienecho

12.05.2010
De Maistre und andere Reaktionäre

Jacob Taubes an Carl Schmitt. Artikel zum Beitrag von Herbert Kopp-Oberstebrink u. Martin Treml, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.5.2010

Beiträge