Kulturen des Wahnsinns. Schwellenphänomene der urbanen Moderne (1870−1930)
Ziel des Forschungsverbundes war es, eine moderne Kulturgeschichte des Wahnsinns zu entwickeln. Es wurden jene Diskurse, Praktiken und Techniken untersucht, mit denen der Wahnsinn zwischen 1870 und 1930 in die Gestaltungen und Vielfalt eines modernen Verständnisses ausdifferenziert wurde.
Das Verbundprojekt zielte auf die historisch-epistemologische Topographie jener Schwellenphänomene, die den Wahnsinn als urbanes Phänomen in seinen diskursiven, institutionellen und medialen Dimensionen entfalten. Es erschloß die Interferenzen zwischen Subjekt- und Kulturgeschichte, zwischen Wissen und Wahn, zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, und eröffnete folglich sehr unterschiedliche Erklärungs-, Deutungs-, Repräsentations- und auch Sinnmuster, die aus den Differenzen kultureller Milieus entstehen und den Bedeutungsraum von Wahnsinn in der sich entfaltenden Großstadtkultur bilden.
Beteiligte wissenschaftliche Einrichtungen:
- Charité-Universitätsmedizin Berlin
- Humboldt-Universität zu Berlin
- Technische Universität Berlin
- Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
- Zentrum für Literatur-und Kulturforschung Berlin
Laufzeit: 2009–2012 (erste Förderphase), 2012–2016 (zweite Förderphase)
Teilprojekte
Narrative des Wahnsinns im großstädtischen Raum, 1900–1930
Wenn die Literatur der klassischen Moderne traditionelle Erzählformen transformiert und neue Darstellungsweisen hervorbringt, spielen hierbei Wahnsinn und großstädtischer Raum eine entscheidende Rolle. In der Großstadt-Literatur konstituiert sich ein Wissen vom Wahnsinn, das wissenschaftliche Abhandlungen, Essays und literarische Texte gleichermaßen durchzieht und nicht hinreichend durch die Unterscheidung zwischen einer literarischen und einer wissenschaftlichen Kultur erfasst und dargestellt werden kann. Das Projekt untersucht ein Ensemble von rhetorischen Strategien, narrativen Verfahren und Erzählformen, das einerseits dazu beiträgt, den Wahnsinn verständlich zu machen und das Einmalige und Individuelle des Wahnsinnigen mit der Allgemeinheit von Krankheitseinheiten zu vermitteln. Und andererseits analysiert es, wie sich ein Wissen vom Wahnsinn, das in der Erkrankung eine unverständliche Realität sieht, mit literarischen Darstellungen überlagert, in der die Stadt keine kohärente und verstehbare Einheit mehr bildet: Was die psychiatrischen Texte als pathologisches Verhalten bestimmen, wird in den literarischen Texten zur Grunderfahrung der urbanen Moderne. Während die Narrative des Wahnsinns eine hermeneutische Perspektive in die Psychiatrie hineintragen, sich mit anderen Wissensformen überlagern und dazu beitragen, die Konzepte der psychopathischen Persönlichkeit und des psychopathischen Charakters auszubilden, bringen diese Narrative in der Literatur neue Erzählweisen hervor, die für eine Darstellung der urbanen Moderne grundlegend werden.
Das erkrankte Geschlecht. Medizin und Prostitution im Berlin des frühen 20. Jahrhunderts
Die Dissertation verfolgt verschiedene Ziele. Zum einen soll am Beispiel von sanitätspolizeilichen Kontrollen an Prostituierten im frühen 20. Jahrhundert untersucht werden, wie während dieser venerologischen Inspizierungen sexuelle Differenzen hervorgebracht und wirkmächtig wurden. Das Erkenntnisinteresse liegt auf der Berührung von Kontrollierendem und Kontrollierter: In diesem Moment verschränkt sich unterschiedlichstes disziplinäres Wissen von der Gynäkologie über die Kriminologie bis hin zum modernen Städtebau und wirkt identitätsstiftend. Mit der Figur der Prostituierten wird ein spezifisches Narrativ in den Mittelpunkt gerückt, anhand dessen die Verbreitungs- und Zirkulationsmomente eines zu historisierenden Wissens aufgedeckt werden sollen. Die Leitfrage ist hierbei: Wie konstituierte sich ein geschlechtliches Selbst um die Geschlechtskrankheiten? Oder allgemeiner: Wie werden in unserer Kultur Menschen zu Subjekten gemacht?
Neben diesem inhaltlichen Anliegen der Studie soll auf der anderen Seite ihre Form thematisiert werden. Gefragt wird, wie eine Arbeit verfasst werden kann, die nicht nur Diskursformationen rekonstruieren will, sondern auch das eigene Schreiben als Prozess von Wissensgenerierung stets mitreflektiert. Angestrebt werden Darstellungsweisen, die dabei helfen, Formen disziplinärer Wahrheitsansprüche abzubauen. Ziel ist es, eine textliche Collage zu erstellen, mittels derer der Versuch unternommen wird, aus der Gebundenheit der eigenen Disziplin herauszutreten und den offenen Text selbst als Angebot zum Dialog zu begreifen, der zum Weiterdenken aber vor allem zum Weiterschreiben einlädt.
Dokumente des Wahns. Fabulieren und Querulieren in Literatur und Psychiatrie
Das Projekt untersucht anhand von Ego-Dokumenten, literarischen und psychiatrischen Texten, die zwischen 1870 und 1930 verfasst wurden, wie Fabulieren und Querulieren als zwei Kategorien des Wahnsinns etabliert, ausdifferenziert, kritisiert und schließlich wieder verworfen wurden. In einem ersten Schritt soll gezeigt werden, dass Fabulieren und Querulieren eigenständigen Regeln, Gesetzmäßigkeiten und Prinzipien folgen, deren Eigenlogik auf mediale Voraussetzungen, den Prozess des Schreibens selbst und kulturelle Faktoren zurückgeführt werden können. In einem zweiten Schritt soll rekonstruiert werden, welche Transformationen Literatur und Psychiatrie in ihrer Auseinandersetzung mit dem Fabulieren und Querulieren erfahren haben: Hierzu werden sowohl die Genese und Praxis einer fabulierenden Schreibweise in der Literatur als auch der Wandel im Diskurs und den Praktiken der Psychiatrie nachgezeichnet. In einem dritten Schritt soll die Relevanz des Themenbereichs für eine Theorie der Moderne aufgezeigt werden: Die Psychiatrie traf im Fabulieren und Querulieren auf das Hindernis, dass sie die Phänomene, die sie erforschte, selbst mit hervorbrachte und insofern Beobachtungen zweiter Ordnung sowie eine Konzeptualisierung von systemischen Prozessen erforderte. Während die Psychiatrie mit dem Fabulieren und Querulieren auf eine Problemstellung stieß, die sie nicht zu lösen vermochte, wurden vom Fabulieren neue Entwicklungen in der Literatur und den Wissenschaften angestoßen: Einerseits bildete die Literatur mit dem Fabulieren eine spezifisch moderne Erzählweise aus, welche eine schematische Unterscheidung von Fiktion und Wirklichkeit außer Kraft setzte; andererseits gewann die Psychologie in der Erforschung des Fabulierens ein neues Verständnis des Wirklichkeitsbezugs von Sprache.
›Total Strangers‹? Die Figur des Autisten in Wissenschaft und Literatur
Autismus – so nannte der Psychiater Eugen Bleuler 1910 ein Symptom der Schizophrenie. Seit den 1940er Jahren bezeichnete Autismus ein eigenständiges Syndrom bei Kindern. Sein Konnex zum Wahnsinn löste sich nur allmählich. Heute wird Autismus als »Entwicklungsstörung« verstanden. Er ist Gegenstand intensiver Forschung, nicht nur der Psychiatrie, sondern etwa auch der Neuro- und Biowissenschaften. Zugleich ist er in vielen Ländern ein Thema von öffentlichem Interesse, wird in Tagespresse und Online-Foren diskutiert. Personen mit Autismus gelten jüngst als ideale Arbeitnehmer der IT-Branche; in Filmen und Romanen treten autistische Protagonisten auf.
Ziel des Projekts ist eine Wissensgeschichte des Autismus. Anhand wissenschaftlicher, literarischer und populärer Quellen werden verschiedene historische Konzeptionen des Autismus beleuchtet. Gefragt wird auch, welche epistemischen Effekte Repräsentationsverfahren in Texten, Filmen und Bildern sowie Wechselwirkungen unterschiedlicher Diskurse auf spezifische Autismus-Konzepte haben.
Diese Konzepte werden zudem in ihrem kulturgeschichtlichen Kontext betrachtet – als Triebmittel wie Ausdruck bedeutender kultureller Debatten des 20. und 21. Jahrhunderts. Mit dem Autismus werden bis heute Entwürfe von Subjektivität, Kommunikation oder Empathie, Kindheit oder Familie verhandelt. Darstellungen des Autismus, der häufig als Störung des Zwischenmenschlichen schlechthin begriffen wird, werfen Licht auf historisch variable Verfasstheiten des ›Sozialen‹. Gerade durch ihre konstitutive Nicht-Greifbarkeit macht die Figur des Autisten oft sichtbar, was sie nicht ist – und steht damit im leeren Zentrum gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen.
Publikationen
Das psychiatrische Aufschreibesystem
Armin Schäfer
- Franz Biberkopfs Wahnsinn, in: Volker Hess, Heinz-Peter Schmiedebach (Hg.): Am Rande des Wahnsinns. Schwellenräume einer urbanen Moderne. Wien: Böhlau 2011
- Das molekulare Unbewusste. Bemerkung zum Anti-Ödipus, in: Christine Kirchhoff, Gerhard Scharbert (Hg.): Freuds Referenzen. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2011, 231–249
- Die Archivfunktion in der Psychiatrie (Kraepelin, Jaspers), in: Burkhardt Wolf, Thomas Weitin (Hg.): Gewalt der Archive. Konstanz: Konstanz UP 2011
- Die Wörter ihre Arbeit tun lassen: Jelineks Stimmen, in: Thomas Eder, Juliane Vogel (Hg.): Lob der Oberfläche. Annäherungen an das Werk Elfriede Jelineks. München: Fink 2010, 7–16
- Erschöpfte Literatur. Über das Neue bei Samuel Beckett, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 32.4 (2009), 329–344
- Biopolitik, in: Roland Borgards, Harald Neumeyer (Hg.): Büchner-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar: Metzler 2009, 176–181
- Existenzmöglichkeiten: Versuch über die Auflösung des sensomotorischen Schemas in Thomas Bernhards ›Amras‹, in: Modern Austrian Literature 42.1 (2009), 45–61
- Souveränität und Moral im barocken Trauerspiel, in: Maximilian Bergengruen, Roland Borgards (Hg.): Bann der Gewalt. Göttingen: Wallstein 2009, 387–421
- Spur und Symptom. Zur Erforschung der Handschrift in der Psychiatrie, in: Barbara Wittmann (Hg.): Spuren erzeugen. Zeichnen und Schreiben als Verfahren der Selbstaufzeichnung. Berlin, Zürich: Diapahnes 2009, 21–38
Veranstaltungen
Kulturen des Wahnsinns
Ambulatorium, RAW-Tempel, Revaler Str. 99, 10245 Berlin
Figurationen der Störung
ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, 3. Et.
Spekulantenwahn zwischen ökonomischer Rationalität und medialer Imagination
Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum, Geschwister-Scholl-Str. 3, 10117 Berlin und Kino Arsenal, Potsdamer Str. 2, 10785 Berlin
Wahnsinn und Methode. Notieren, Ordnen, Schreiben in der Psychiatrie
Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung der Universität Lübeck, Königstraße 42, Hörsaal
Am Rande des Wahnsinns. Aus der Werkstatt einer kultur- und medizinhistorischen Forschergruppe
ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, 3. Et., Seminarraum 303