Poetik der Pathosformel. Beitrag zu einer kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft

Von den Intuitionen des Kunsthistorikers und Kulturtheoretikers Aby Warburg sind besonders in den letzten beiden Jahrzehnten weit über die von ihm begründete Bildwissenschaft hinaus wichtige theoretische Impulse ausgegangen. Besonders die Begriffe des ›Atlas‹ und des ›Nachlebens‹ sind zu fachübergreifenden Denkmodellen geworden. Das Potenzial der in Kunstgeschichte und Bildtheorie vieldiskutierten Pathosformel scheint jedoch in der Literaturwissenschaft und in der Diskussion um das Verhältnis von Bild und Sprache noch nicht ausgeschöpft. Das mutet auf den ersten Blick paradox an, weil Warburg selbst ja die Pathosformel in Sprach-Metaphern veranschaulichte: »eingewanderte antikische Rhetoriker«, »Urworte leidenschaftlicher Gebärdensprache« nannte er jene von der Antike geprägten, nachlebenden visuellen Formeln, insbesondere Gebärden, auf die die Renaissance-Künstler mehr oder weniger bewusst zurückgriffen, um die Intensität des Ausdrucks zu steigern und zugleich zu zähmen.

Doch Warburgs Begriff der Pathosformel begründete eben gerade kein Repertoire konventionalisierter Zeichen, kein systematisches ›Vokabular‹ zur kalkulierten Erzeugung inventarisierter Emotionen. Diese Erkenntnis hat die Kunstgeschichte bzw. die Bildwissenschaft dazu gebracht, die Pathosformel eher in Abgrenzung zur Rhetorik und zur Sprache überhaupt zu profilieren – was wiederum die Sprache tendenziell auf ein rein diskursives, transparentes System reduziert. Das aber wird dem Gebrauch der Sprache besonders in der Literatur nicht gerecht. Ziel dieses Forschungsprojektes war es daher, die Pathosformel als literaturwissenschaftliche Kategorie fruchtbar zu machen, ohne dabei hinter die erwähnten Erkenntnisse der neueren Bildwissenschaft und -anthropologie zurückzufallen. Wie ist die Dialektik von Pathos und Formel, von Ausdrucksintensität und Formelhaftigkeit, auch in der literarischen Sprache am Werk? Wie erklärt sich die Faszination für »vorgeprägte Ausdruckswerte«, die vom modernen Ideal des originalen, individuellen Ausdrucks paradoxerweise nicht zerstört, sondern eher gesteigert wird?

Eine ›Poetik der Pathosformel‹ wurde exemplarisch am Werk W. G. Sebalds herausgearbeitet, dessen Bild- und Textmontagen die Restitution jener »Schmerzensspuren« verfolgen, »die sich in unzähligen feinen Linien durch die Geschichte ziehen« (Sebald: Austerlitz). Darin zeigt sich eine entscheidende Verwandtschaft zu Warburgs »Leidschatz der Menschheit«, der ja in der Pathosformel vergegenwärtigt wird. Auch bei Sebalds Versuch, vergangenes Leid zu vergegenwärtigen, geht es um den angemessenen Umgang mit Pathos. Das Konzept der Pathosformel eröffnet hier eine neue Perspektive auf Sebalds Suche nach einer »authentischen Form des Erinnerns«, die sich in seiner Arbeit an Bildern und am Verhältnis von Wort und Bild äußert.

Forschungsstipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung 2015–2018
Leitung: Karine Winkelvoss

Publikationen

Karine Winkelvoss

W. G. Sebald: Formen des Pathos

Brill | Fink, Paderborn 2022, 313 Seiten
ISBN 978-3-7705-6618-1
Karine Winkelvoss

W. G. Sebald, l’économie du pathos

Littérature, histoire, politique
Classiques Garnier, Paris 2021, 385 Seiten
ISBN 978-2-406-10762-0

Karine Winkelvoss

  • Vogelperspektiven und Flügelsandalen. W. G. Sebalds geheime Ornithologie, in: Politische Ornithologie (Neue Rundschau) 1 (2017), hg. von Teresa Präauer, 68–80
  • Bild – Text, in: Claudia Ölschläger, Michael Niehaus (Hg.): W. G. Sebald-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Metzler 2017, 114–121
  • »Peur du faux« et »forme authentique« chez Sebald, in: Muriel Pic, Jürgen Ritte (Hg.): W. G. Sebald. Litérature et Étique Documentaire. Paris: Presses Sorbonne Nouvelle 2017, 87–102
  • »Die Schrecksekunde des Blitzlichts«. L’arrêt sur image chez Sebald, entre panique et illumination«, in: Sylvie Arlaud, Mandana Covindassamy, Frédéric Teinturier (Hg.): W. G. Sebald – Récit, histoire et biographie dans »Die Ausgewanderten« et »Austerlitz«. Paris: L'Harmattan 2015, 141–161
  • Erinnerung an das nie Gesehene – Vergegenwärtigung und Geistesgegenwart der Bilder. Einleitung, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 81.2 (2018), 185–197

Medienecho

01.04.2023
W.G. Sebald: Formen des Pathos

Rezension von Uwe Schütte, in: Weimarer Beiträge 69.1 (2023), 151–154

31.03.2023
Über den richtigen Umgang mit dem kaum Sagbaren

Rezension von Manfred Roth, in: literaturkritik.de, 31.3.2023

Beiträge