Poetologie und jüdische Philosophie. Gershom Scholem-Edition
Der jüdische Religionshistoriker und Philosoph Gershom Scholem (geb. 1897 in Berlin, gest. 1982 in Jerusalem) gilt als Begründer einer wissenschaftlichen Erforschung der jüdischen Mystik. Scholems Wirkung erstreckt sich jedoch auch auf das Gebiet der jüdischen Studien im Allgemeinen. Bekanntheit erlangt hat zudem seine gemeinsam mit Adorno herausgegebene Ausgabe der Werke und Briefe Walter Benjamins, mit dem Scholem seit 1915 befreundet war.
Scholems Nachlass in der National Library of Israel offenbart noch eine andere wichtige Seite seines Schaffens: Eigene Übersetzungen und übersetzungstheoretische Reflexionen, Literaturkritik, Dichtungstheoretisches sowie eine Vielzahl an Gedichten, deren Stellenwert in Tagebucheinträgen und Briefen hervorgehoben wird, verweisen auf einen von der Forschung lange Jahre weitgehend ignorierten ›literarischen‹ Scholem. Dabei legt insbesondere das Frühwerk nahe, dass Scholems eigene schriftstellerische Versuche und sein sprachtheoretisches Interesse, vor allem aber seine eingehende Beschäftigung mit Klage und Klagelied den Weg für seine spätere wissenschaftliche Erforschung der Kabbala ebneten. Scholems wissenschaftliches Werk steht also in einem genealogischen wie sachlichen Zusammenhang mit seiner theoretischen und praktischen Auseinandersetzung mit Literatur und Poetologie und ist keineswegs als davon abgespalten zu betrachten. Darüber hinaus besitzen die teilweise nicht oder nur an abgelegenen Orten publizierten Texte einen Eigenwert, so dass es geboten war, sie auch einer breiteren Leserschaft zugänglich zu machen.
Die Edition stellt Scholems Poetica an die Seite seiner Judaica. Dies geschieht in sechs Abteilungen, für die neben den Erstdrucken auch die umfangreichen Archivbestände sowie die publizierten Tagebücher und Korrespondenzen Scholems ausgewertet wurden:
- Die erste Abteilung präsentiert die Übersetzungen von Klagen und Klageliedern sowie deren Poetologie; beide sind Vorstufen zu Scholems früher vorwissenschaftlicher, metaphysisch geprägter Auseinandersetzung mit der Kabbala, die nach der Übersiedelung nach Eretz Israel zur historisch-philologischen Forschungsdisziplin umgebildet wurde.
- Der zweite Teil bietet Übersetzungen religiöser Texte, wie etwa die frühe Übersetzung des Hohen Liedes oder die große Übertragung der Psalmen.
- Im Mittelpunkt der dritten Abteilung steht eine Sprachtheorie des Hebräischen, wie Scholem sie in seiner frühen Kritik neuhebräischer Lyrik und von Übersetzungen aus dem Jiddischen sowie in Texten nach der Übersiedlung nach Eretz Israel formuliert hat.
- Mit Samuel Josef Agnon und Chajim Nachman Bialik widmet sich die vierte Abteilung den beiden neuhebräischen Schriftstellern, die für Scholem von so herausragender Bedeutung waren, dass er Arbeiten von ihnen übersetzt und sich in Aufsätzen mit ihnen auseinandergesetzt hat.
- Ein fünfter Teil versammelt dichtungstheoretische Texte und Literaturkritiken, die stets auch ein Nachdenken über die eigenen ästhetischen Maßstäbe enthalten.
- Die sechste Abteilung schließt den Band ab; sie enthält den kritischen Lesetext der über sechs Lebensjahrzehnte hinweg verfassten Gedichte. Im Kommentar werden sie entstehungsgeschichtlich und biografisch kontextualisiert und dadurch für den Leser erschlossen, denn auch die nicht explizit als Widmungs- oder Beziehungsgedichte gestalteten Texte besitzen in der Regel einen klaren Adressatenbezug und positionieren sich in Dialogen und Kontroversen, wie Briefe und Tagebucheinträge belegen.
Publikationen
Unter Mitarbeit von Theresia Heuer
Gershom Scholem: Poetica
Schriften zur Literatur, Übersetzungen, Gedichte
Hannah Markus
- Das Editionsprojekt »Poetologie und jüdische Philosophie. Gershom Scholem-Edition«. Literarische und poetologische Schriften in Scholems Nachlass in der National Library of Israel, Jerusalem, in: Geschichte der Germanistik. Historische Zeitschrift für die Philologien 49/50 (2016), 151–153
Daniel Weidner
- Zwei neue Biographien von Gershom Sholem. Oder: Was kann eigentlich eine intellektuelle Biographie?, in: ZfL Blog, 11.12.2018
Sigrid Weigel
- The Role of Lamentation for Scholems Theory of Poetry and Language, in: Ilit Ferber, Paula Schwebel (Hg): Lament in Jewish Thought. Philosophical, Theological and Literary Perspectives. Berlin, Boston: de Gruyter 2014, 185–203
Veranstaltungen
Gershom Scholem: Poetica
W. M. Blumenthal Akademie, Fromet-und-Moses-Mendelssohn-Platz 1, 10969 Berlin, Klaus Mangold Auditorium
Thirty Years After. Jacob Taubes between Politics, Philosophy and Religion
Collegium Helveticum, Semper-Sternwarte, Schmelzbergstr. 25, 8006 Zürich
Middat ha-din and middat ha-rahamim in Scholem’s Poetics. Sources and Implications
ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, Seminarraum 303
Menachem Lorberbaum (Tel Aviv): To Knowingly Sin. Sabbatianism and Hasidism Revisited
ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, 3. Et., Trajekte-Tagungsraum
Praise and Mourning. Poetics and Thought in the Early Writings of Gershom Scholem
Tel Aviv University, Gilman Building, Room 133
Medienecho
Rezension von Bernd Feininger, in: Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung im Kontext 1–2 (2020), 142–144
Rezension von Cord-Friedrich Berghahn, in: Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020), 247–252
Rezension von Wolfgang Matz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29.05.2019
Radiorezension von Hans-Martin Schönherr-Mann, in: Deutschlandfunk, Sendung Büchermarkt vom 24.03.2019
Rezension von Eberhard Geisler, in: Frankfurter Rundschau vom 15.03.2019