Erzählstrategien der Zeitraffung im 20. und 21. Jahrhundert
Verfahren der Zeitraffung und des elliptischen Erzählens zählen zum Standardrepertoire der Literatur. In der Gegenwartsliteratur, zumal in spekulativen Romanen und der sogenannten climate fiction, werden diese Verfahren auf die Probe gestellt, indem der Versuch unternommen wird, lange Zeiträume zu erzählen, um größere Zusammenhänge und das Zusammenwirken verschiedener (auch nichtmenschlicher) Entitäten darstellen zu können.
Das Projekt nimmt dies zum Anlass, ein narratologisches Problem neu zu perspektivieren und zu historisieren: das Verhältnis der Zeit der Geschichte (histoire) zur Zeit der Erzählung (discours). Gérard Genettes Ansatz beruhte darauf, dass Zeit zum einen gemessen (Chronologie der Geschichte) und zum anderen verräumlicht (Textlänge) wird, um so eine Erfassung narrativer Geschwindigkeiten zu ermöglichen. Anhand der Darstellung langer Zeiträume in erzählenden Texten des 20. und 21. Jahrhunderts untersucht das Projekt diese Geschwindigkeiten und ihre Wechsel in einem Extrempunkt und arbeitet zugleich die Voraussetzung der jeweiligen Zeit- und Geschichtsauffassungen heraus. Als lang gilt dabei zunächst alles, was über den üblicherweise durch den Generationenroman abgedeckten Zeitraum von mehreren Dekaden hinausreicht und sich mithin in Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden bemessen lässt. Dabei stehen drei Fragekomplexe im Vordergrund:
- Narratologische Aspekte: Wie werden Textpassagen fokalisiert und wer spricht, wenn die dargestellten Zeiträume die Lebenszeit von Individuen bei Weitem überschreiten? Wann geraten selbstverständliche erzählerische Mittel wie Zeitraffung und elliptisches Erzählen an ihre Grenzen?
- Zeit- und Geschichtsmodelle: In welcher Beziehung steht die Thematisierung von Zeit und Geschichte in der histoire zur Modellierung von Zeit qua discours? Drängen sich Fragen nach der Möglichkeit von Erinnerung und Archivierung auf oder manifestieren sich Entwicklungshypothesen und geschichtsphilosophische Annahmen in der histoire oder dem discours?
- Kultur- und mediengeschichtliche Dimension: Fließt in die Darstellung langer Zeiträume verstärkt Wissen aus anderen Feldern, insbesondere aus den historisch arbeitenden Wissenschaften gemäß dem Stand der jeweiligen Zeit, ein? Welche Bedeutung haben moderne Beschleunigungsnarrative und Techniken der Beschleunigung in anderen Medien für die Literatur? Gibt es spezifische ›Beschleunigungs- und Verzögerungskapazitäten‹ (Genette) und Effekte der Literatur im Vergleich zu anderen Medien?
Abb. oben: © Dirk Naguschewski
Publikationen
Eva Axer
- Tiefenzeit erfahren. Roadtrips und andere Arten des Reisens in John McPhees ›Annals of the Former World‹, in: Gwendolin Engels u.a. (Hg.): Im Fuhrpark der Literatur. Kulturelle Imaginationen des Autos. Göttingen: Wallstein 2022, 240–253
- Lebenszeitskalierung und Wahrnehmungsgeschwindigkeit (bei Karl Ernst von Baer, Richard Powers und anderen), in: ZfL Blog, 30.6.2021
Veranstaltungen
Eva Axer: Sprechende Hyperobjekte? Skalare Inkongruenz in Kim Stanley Robinsons »The Ministry for the Future«
Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Eberhard-Lämmert-Saal, Eingang Meierottostr. 8, 10719 Berlin
Eva Axer: Diverging Temporalities and the Question of Change. On ‘Model Thinking’ in Literary Theory (C. Levine) and Climate Fiction (R. Powers, KS Robinson)
Freie Universität Berlin, Konferenzraum des Clusters EXC 2020, Raum 0.07, Otto-von-Simson Straße 15, 14195 Berlin