Die Philologie der Physiker. Angewandtes Textwissen in der Wissenschaftskultur der Quantenphysik
Die Schriften und nachgelassenen Materialien der deutschsprachigen Gründerväter der Quantentheorie sind reich an Rekursen auf philologische Wissensbestände. Das Projekt geht davon aus, dass sich die enthusiastisch gepriesene ›philologische Schule‹, welche die theoretischen Physiker im Zuge ihrer humanistischen Ausbildung durchlaufen hatten, auch in ihren Arbeits- und Erkenntnistechniken niedergeschlagen hat. Weder die Philologie- noch die Wissenschaftsgeschichte hat dieses Phänomen bislang systematisch erforscht. Hier setzt die Arbeit der Forschungsgruppe an: Ziel ist es, unter dem methodischen Dach der Literatur- und Kulturwissenschaften interdisziplinäre Wechselwirkungen zwischen Physik und Philologie und ihre disziplinäre Produktivität an der Epochenschwelle um 1900 historisch zu ergründen.
Die Basis des Vorhabens bildet die Erschließung von Nachlassbeständen aus dem Umfeld der deutschsprachigen modernen theoretischen Physik für die Literatur- und Kulturwissenschaften. Dabei werden neben den kulturellen Dispositionen vor allem die medientechnologischen, materiellen und infrastrukturellen Voraussetzungen der damaligen Wissensproduktion berücksichtigt: Aufbauend auf text- und materialnahen Fallstudien sollen zum einen jene Kontaktzonen und Wissensräume ergründet werden, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen intensiven Austausch zwischen Physik und Philologie ermöglichten. Zum anderen widmet sich die Forschungsgruppe der Zirkulation und produktiven Transformation von epistemischen Praktiken, derer sich theoretische Physik und Philologie im Umgang mit unsicheren, fragmentarischen, dabei jedoch immer weiter anwachsenden Wissensbeständen bedienten. Inwiefern waren die verschiedenen Techniken des Lesens, Interpretierens, Übersetzens und Erzeugens von ›Texten‹, wie sie in den philologischen und physikalischen Seminaren jener Zeit praktiziert wurden, wechselseitig anschlussfähig? Unter welchen Bedingungen konnte die Philologie als Wissensmodell für die moderne Physik fungieren? Oder wäre eher von der zeitgleichen Emergenz vergleichbarer Praktiken in vergleichbar organisierten epistemischen Räumen und Situationen zu sprechen?
Das Projekt arbeitet durch die Beantwortung derartiger Fragen nicht nur die exponierte Stellung der Philologie in der Produktion von Wissen jenseits enger disziplinärer Grenzen heraus. Über die konkrete Untersuchung physikalisch-philologischer Praktiken und Kulturtechniken in ihrem historischen Setting zwischen 1875 und 1950 leistet es einen Beitrag zur Kulturgeschichte intellektueller Praktiken und setzt neue Impulse für aktuelle literaturwissenschaftliche Debatten, in deren Verlauf neben dem ›Ende der Philologie‹ auch ihre ›Rückkehr‹ und ihre ›Zukunft‹‚ ihre ›Verheißungen‹ und ihre ›Macht‹ in den Raum gestellt wurden.
Abb. oben: © Martin Gronau
Veranstaltungen
Magdalena Gronau, Martin Gronau: Der »Fall« Schrödinger. Zur Aufklärung der Missbrauchsvorwürfe
Erwin-Schrödinger-Zentrum – Humboldt-Universität zu Berlin, Vortragsraum 0'101, Rudower Chaussee 26, 12489 Berlin
Magdalena Gronau, Martin Gronau: Wissenschaften im Dialog: Antike Erzähltechniken in der Geschichte der Quantentheorie
Universität Freiburg
Sprachen der Physik
Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Beratungsraum, Eingang Meierottostr. 8, 10719 Berlin
Der »Fall« Schrödinger. Zur Aufklärung der Missbrauchsvorwürfe
Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Eberhard-Lämmert-Saal, Eingang Meierottostr. 8, 10719 Berlin
Magdalena Gronau, Martin Gronau: »Eine Mischung von saugrob und zärtlich«: Gelehrte Kritik in Korrespondenzen von befreundeten Physikern im Exil
Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Ilse-Zimmermann-Saal, Pariser Str. 1, 10719 Berlin