Kognitive Handwerkskunst: Wie vier Autor*innen die Sinne ihrer Leserschaft ansprechen
In Zeiten globaler Krisen ist die menschliche Vorstellungskraft wichtiger denn je. Um zu verstehen, wie Menschen im digitalen und globalen Zeitalter (von den 1990er Jahren bis heute) auf Textsignale mit mentalen Bildern reagieren, die verschiedene Sinnesmodalitäten kombinieren und so den Eindruck erlebter Erfahrung vermitteln, bringt das Projekt das Wissen von Romanautor*innen mit Erkenntnissen der Literatur- und Naturwissenschaften zusammen.
Wie der Mensch taktile, motorische, auditive, visuelle, olfaktorische und gustatorische Informationen integriert, ist erst in Ansätzen erforscht. Die neurowissenschaftlichen Arbeiten von Simon Lacey, Krish Sathian und Charles Spencer deuten darauf hin, dass die sensorische Integration im neuronalen Verarbeitungsprozess früher auftritt als ursprünglich angenommen. Die Forschung zeigt auch, dass Hirnregionen, von denen man annahm, sie seien für bestimmte Modalitäten wie das Sehen ›reserviert‹, besser als spezialisierte Regionen für bestimmte Funktionen wie die Navigation zu verstehen sind, die gleichzeitig Informationen aus mehreren Modalitäten benötigen. Auch Romanautor*innen, die sich sinnlicher Erinnerungen bedienen, um eine suggestive Sprache zu schaffen, arbeiten mit Bildern, die bereits vermischt sind. Bei den Lesenden wiederum wirken verbale Signale top-down, indem sie an vergangene Sinneseindrücke anknüpfen, die bereits lange mit anderen kombiniert sind. Dennoch können Forschende, die die Kommunikation zwischen den sensorischen und motorischen Systemen des Menschen untersuchen, einiges von Autor*innen lernen, die Expert*innen für die Erzeugung multimodaler Sinnestäuschungen sind. Das Projekt baut auf Forschungen im Bereich der kognitiven Literaturwissenschaft auf, wo Forscherinnen wie Ellen Esrock, Elaine Scarry, G. Gabrielle Starr, Anežka Kuzmičová und Elaine Auyoung Strategien untersucht haben, mit denen Autor*innen das Erleben fiktionaler Welten ermöglichen.
Darstellungen und Verständnis von Sinneseindrücken variieren je nach Zeit und Kultur. Im Projekt wird daher eine vergleichende Lektüre von vier Romanen zeitgenössischer englischsprachiger Autor*innen vorgenommen, die sich durch besonders evokative Beschreibungen von Sinneseindrücken auszeichnen:
- Edwidge Danticat, Atem, Augen, Erinnerungen (1994)
- Arundhati Roy, Der Gott der kleinen Dinge (1997)
- Yvonne Vera, The Stone Virgins (2002)
- Junot Díaz, Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao (2007)
Diese Romane erzählen von den Versuchen ihrer Figuren, die Gewalt in Haiti, den USA, Indien, Simbabwe und der Dominikanischen Republik zu überleben. Ihr Erfolg bei Publikum und Kritik ist nicht zuletzt auf die lebendige Schilderung der Gefühle ihrer Figuren zurückzuführen. Die Romane laden die Lesenden dazu ein, diese Gefühle zu simulieren, indem sie eigene Sinneserfahrungen nacherleben und neu kombinieren. Dabei kann handwerklich anspruchsvolle Literatur, die Lesende ermutigt, die Empfindungen ihrer Figuren zu teilen, Forschenden dabei helfen, sich das Innenleben derjenigen vorzustellen, die in der Forschung häufig unterrepräsentiert sind.
Die Untersuchung dieser literarischen Werke folgt dabei diesen Leitfragen:
- Welche Sinnesmodalitäten werden in evokativen Beschreibungen am häufigsten kombiniert?
- Welche verbalen Hinweise auf Sinneseindrücke stimulieren am ehesten andere Sinne und warum?
- Wie variieren die Kombinationen der Sinneseindrücke einzelner Figuren abhängig von deren physischen, sozialen und emotionalen Umständen?
- Welche Sinnesmodalitäten werden überwiegend direkt beschrieben, welche eher durch Metaphern?
- Wie unterscheiden sich Beschreibungen von Sinneseindrücken je nach literarischem Kontext, zum Beispiel in der erzählerischen Exposition, im Dialog, am Anfang oder Ende eines Kapitels?