Deutsch als Sprache der Geisteswissenschaften um 1800
Das Projekt untersuchte die Wissenschaftssprache jener Fächer, die im späteren 19. Jahrhundert als Geisteswissenschaften etabliert worden sind. Es betrachtete die sprachlichen, stilistischen, darstellungstechnischen und medialen Eigentümlichkeiten der deutschen Geisteswissenschaften konsequent als ein Erbe sprachphilosophischer, wissenschaftstheoretischer und universitätspolitischer Debatten aus der Zeit um 1800. Im Zentrum stand der Zusammenhang von konkretem Sprachgebrauch und kritischer Sprachreflexion, von dem der akademische Zuschnitt und nicht zuletzt auch das soziopolitische Selbstverständnis der deutschen Geisteswissenschaften bis heute vielfach abhängen. Schließlich lassen sich solche Verbindungen bis in die aktuellen Diskussionen um die Problematik der Übersetzbarkeit des Deutschen als Wissenschaftssprache hinein beobachten.
Um 1800 verstärkte sich das Problembewusstsein für eine der wissenschaftlichen Reflexion adäquate Darstellung, da sich bei zahlreichen Autoren die Überzeugung durchsetzte, die Sprache sei nicht nur ein Werkzeug oder Transportmittel, sondern vielmehr ein »bildendes Organ des Gedankens« (Wilhelm v. Humboldt). Das enge Verhältnis von Aussage und Ausdruck rückt die Wissenschaft in der deutschen Tradition geradezu zwangsläufig in die Nähe zur Literatur. Dabei zeigen sich viele Texte in der Frage v.a. ihrer Adressierung von einer interessanten Paradoxie geprägt. Einerseits soll die jeweilige Sprache überhaupt erst den szientistischen Anspruch wissenschaftlicher Projekte beglaubigen und diese gleichsam als Spezialdiskurse legitimieren, andererseits muss der ideale Adressat der Wissenschaft solche Spezialdiskurse immer auch überschreiten. So weist etwa Johann Gottlieb Fichte den Vorwurf der »Unverständlichkeit« seiner »Wissenschaftslehre« als implizites Verlangen nach »Seichtigkeit« und »Stümperei« seitens der Leser zurück, zugleich aber erlegt er dem Wissenschaftler die Aufgabe auf, einen Beitrag zum »Fortgang des Menschengeschlechts« zu leisten.
Das Projekt beschäftigte sich intensiv mit derartigen Tendenzen der Überfrachtung wie Überforderung der deutschen Wissenschaft und ihrer Sprache. Mit Blick auf die Französische Revolution, die napoleonische Besatzung und das dadurch erwachte Nationalbewusstsein fragte es auch nach den politischen Implikationen eines wissenschaftlichen Selbstverständnisses um und seit 1800. Schließlich wurde (auch) die Wissenschaft in diesen Jahren oft darauf verpflichtet, jene Emanzipationsbewegung zu kompensieren oder zu ersetzen, die Frankreich politisch realisiert hatte. Die Wissenschaft adressierte folgerichtig weniger den einzelnen Gelehrten als sie Modelle der Vergemeinschaftung zu entwerfen versuchte. Ein besonderes Augenmerk wurde hierbei auf die potenzielle longue durée dieser Konstellationen gelegt, denn die politischen und gemeinschaftlichen Substrate der deutschen Wissenschaftssprache wirken bis weit in das 20. Jahrhundert hinein fort.
Abb. oben: Friedrich Hegel mit Studenten, Litographie, aus »Das Wissen des 20.Jahrhunderts«, Bildungslexikon, Rheda 1931, Quelle: Wikimedia
Publikationen
Über Wissenschaft reden
Studien zu Sprachgebrauch, Darstellung und Adressierung in der deutschsprachigen Wissenschaftsprosa um 1800
Goethe um 1900
Meine Sprache ist Deutsch
Deutsche Sprachkultur von Juden und die Geisteswissenschaften 1870–1970
Claude Haas
- Hölderlin contra Goethe. Gemeinschaft und Geschichte in Max Kommerells »Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik«, in: Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge XXVII.1 (2017), 149–162
- Heiland oder Führer? Der Dichter als Kulturheros in der Literaturwissenschaft des George-Kreises, in: Zaal Andronikashvili, Matthias Schwartz, Franziska Thun-Hohenstein (Hg.): Kulturheros. Genealogien. Konstellationen. Praktiken. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2017, 537–565
- Auflösung des Judentums. Zu einem literaturwissenschaftlichen Großprojekt Friedrich Gundolfs, in: Daniel Weidner, Stephan Braese (Hg.): Meine Sprache ist Deutsch. Deutsche Sprachkultur von Juden und die Geisteswissenschaften 1870–1970. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2015, 155–173
Daniel Weidner
- Das große Problem bleibt hier die Sprache. Jüdische Autoren und deutsche Sprachkultur in der Bibelwissenschaft und Religionsgeschichte, in: Arndt Engelhardt, Susanne Zepp (Hg.): Sprache, Erkenntnis und Bedeutung. Deutsch in der jüdischen Wissenskultur (Leipziger Beitrage zur jüdischen Geschichte und Kultur Nr. 11). Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2015, 37–53
- Doppelstaat, Unstaat, Massenwahntheorie. Wissenschaftssprache und politisches Denken im Exil, in: Jahrbuch Exilforschung 32 (2014), 100–117
Sigrid Weigel
- Erkenntnispotenzial und ideologische Erbschaften – zur deutschen Wissenschaftssprache in den Geisteswissenschaften und ihrer Geschichte, in: Goethe Institut, DAAD, Institut für Deutsche Sprache (Hg.): Deutsch in den Wissenschaften. Beiträge zu Status und Perspektiven der Wissenschaftssprache Deutsch. München: Klett-Langenscheidt 2013, 57–67
Veranstaltungen
Über Wissenschaft reden. Sprachgebrauch, Darstellungsform und Adressierungsstruktur der deutschen Wissenschaftsprosa um 1800
ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, 3. Et.
Deutsch als Sprache der Geisteswissenschaften II: Historische Perspektiven auf ein aktuelles Problem
ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, 3. Et., Trajekte-Tagungsraum 308
Deutsch als Sprache der Geisteswissenschaften I: Ursprünge um 1800
ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, 3. Et., Trajekte-Tagungsraum 308
»Meine Sprache ist Deutsch«. Deutsche Sprachkultur von Juden und die Geisteswissenschaften 1870–1970
ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, 3. Et., Trajekte-Tagungsraum
nachDenken. Internationale Wirkungsgeschichte der deutschsprachigen Geisteswissenschaften und ihrer Sprache
ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, 3. Et., Trajekte-Tagungsraum 308