Edition der Werke Hermann Borchardts

Seit 2021 erscheinen die Werke des deutsch-jüdischen Schriftstellers Hermann Borchardt (1888–1951) in einer auf fünf Bände angelegten kommentierten Ausgabe im Wallstein Verlag in Göttingen. Die Edition enthält verschollen geglaubte und unveröffentlichte Werke aus dem Nachlass. Am ZfL arbeiten die Herausgeber am dritten Band, der erstmals Borchardts zweiten Roman Geschichte einer Edelfrau vorstellen wird.

Als den »größten lebenden Satiriker deutscher Sprache« stellte Bertolt Brecht ihn einmal in New York vor. Er hätte ihn auch den glücklosesten deutschen Schriftsteller im Exil nennen können. In Deutschland hatte Hermann Borchardt drei Dramen veröffentlicht und mit Brecht zusammengearbeitet, u.a. an der Heiligen Johanna der Schlachthöfe, in der Emigration geriet er aber bald in Vergessenheit. Wiederentdeckt wurde der auch von der Exilforschung jahrzehntelang übersehene Autor erst erstaunlich spät: Der 2005 von Uta Beiküfner aus dem Nachlass herausgegebene Roman Die Verschwörung der Zimmerleute war die bis vor Kurzem einzige Veröffentlichung Borchardts in Deutschland seit seiner Emigration. Im Gegensatz zu seinem ungleich berühmteren Freund Brecht, mit dem er sich im Exil politisch entzweite, war Borchardt allerdings ein Gegner nicht nur des deutschen Nazifaschismus, sondern ebenso sehr des sowjetischen Kommunismus. Von totalitärer Herrschaft sprach er bereits in den ausgehenden 1930er Jahren, lange bevor Hannah Arendt 1951 mit ihrer systematischen Kritik des Totalitarismus hervortrat.

Der als Hermann Joelsohn 1888 in Berlin geborene Borchardt, der wegen des schon vor 1933 spürbaren Antisemitismus den Namen seiner Mutter annahm, arbeitete in der Weimarer Republik als Gymnasiallehrer in Berlin. Die ersten Dramen, die er neben seinem Brotberuf schrieb, wurden 1928/29 in der Theaterabteilung des S. Fischer Verlags gedruckt, jedoch nie aufgeführt. Im April 1933 musste er, von einem Kollegen denunziert, Deutschland verlassen. Er flüchtete zunächst nach Paris und ging von dort 1934 nach Minsk in die Sowjetunion, wo er eine ihm angebotene Stelle als Professor für deutsche Sprache antrat. Als er sich weigerte, die sowjetische Staatsbürgerschaft anzunehmen, wurde er 1936 des Landes verwiesen. Er kehrte zurück nach Berlin und wurde bald darauf verhaftet. Nach einem Jahr Gefangenschaft in den KZ Esterwegen, Sachsenhausen und Dachau konnte er, durch Misshandlung fast taub und an einer Hand versehrt, dank finanzieller Hilfe von Eva und George Grosz 1937 nach Amerika ausreisen.

Als Schriftsteller fristete der fortan in New York lebende Borchardt ein Schattendasein. Eine gekürzte englische Übersetzung des oben genannten Romans konnte er 1943 unter dem Titel The Conspiracy of the Carpenters bei Simon and Schuster publizieren (mit einem Vorwort von Franz Werfel), darüber hinaus lediglich Aufsätze und Broschüren, in denen er sich insbesondere mit der Gefahr totalitärer Herrschaft befasste. Die Theaterstücke, die er in den USA schrieb, wurden weder gedruckt noch gespielt, mit Ausnahme des unter Ernst Tollers Namen erschienenen Pastor Hall (1939), dessen ursprüngliche Fassung Hermann Borchardt als Ghostwriter verfasste. Zu den Werken, die er nahezu unbemerkt hinterließ, gehören, um nur zwei herauszuheben, die Geschichte einer Edelfrau. Liebesroman aus deutscher Vergangenheit sowie ein Traktat über die Unsterblichkeit, über dem er schließlich verstarb.

Borchardts Nachlass, der bei Weitem größte Teil seines Œuvres, ist einer der letzten beinahe unberührten Schätze der Literatur des deutschen Exils 1933–1945: das Werk eines Autors, der sich von einem Sympathisanten des Kommunismus zum konservativen Kritiker einer Welt wandelte, die ihre größten Glücksversprechen gebrochen hatte. Widrige geschichtliche Umstände allerdings haben diesem vielseitigen und höchst originellen Schriftsteller die ihm gebührende Wertschätzung versagt. Unter den deutschen Emigranten in den USA, die der Sowjetunion von ferne wohlwollend gegenüberstanden, befand sich Borchardt, der den Bolschewismus ebenso wie den Nationalsozialismus aus nächster Nähe kennengelernt hatte, als entschiedener Gegner jedweder totalitären Herrschaft auf verlorenem Posten.

Die Werkausgabe versammelt eine repräsentative Auswahl von Texten aus vier Jahrzehnten, die von der geistigen und politischen Entwicklung dieses noch zu entdeckenden Autors Zeugnis ablegen. Begonnen wurde die Arbeit an der Edition 2019 an der Freien Universität Berlin mit Mitteln der Fritz Thyssen Stiftung und wird seit August 2023 am ZfL gefördert durch die Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur fortgesetzt.

 

»Zeit seines Lebens glaubte der Schriftsteller und Philosoph Hermann Borchardt daran, dass seine Stücke eines Tages veröffentlicht würden. Im Exil stand er jedoch stets im Schatten namhafter Weggefährten wie Bertolt Brecht, Lion Feuchtwanger oder Klaus und Thomas Mann. Nun endlich, 70 Jahre nach Borchardts Tod, ist es so weit …«
Anne Kostrzewa, Tagesspiegel vom 4.10.2022
 
»Ja, es ist eine bewegende Literaturgeschichte, die mit und in dieser Werkausgabe erzählt wird.«
Martin Oehlen, Frankfurter Rundschau vom 16.7.2022
 
 

Abb. oben: Reisepass von Hermann Borchardt, aus dem Nachlass Hermann Borchardt, Quelle: Deutsches Exilarchiv 1933–1945 der Deutschen Nationalbibliothek, Frankfurt am Main

Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur 2023–2024
Leitung: Christoph Hesse
Bearbeitung: Lukas Laier

Publikationen

Editionsplan

Prosa
Hermann Borchardt: Werke, Bd. 3
Herausgegeben von Hermann Haarmann, Christoph Hesse und Lukas Laier
Göttingen: Wallstein (vorauss. 2024)

Den größten Teil dieses Bandes füllt, neben kleinen Erzählungen, von denen Borchardt zu Lebzeiten nur zwei publizieren konnte, die 1944 abgeschlossene, jedoch nie veröffentlichte Geschichte einer Edelfrau. Liebesroman aus deutscher Vergangenheit, ein bitterkomischer Roman aus der scheinbar fernen Vorgeschichte des deutschen Faschismus. Die Arbeit an diesem Werk, das »eigentlich von der Verpofelung der Welt handelt« (Brief an George Grosz, 27. Oktober 1933), begann Borchardt noch vor seiner Flucht aus Deutschland. Die während seines Aufenthalts in Minsk 1934/35 unterbrochene Arbeit nahm er erst in den 1940er Jahren in New York wieder auf. Außer dem vollständigen Roman wird der Band Kapitel und Fragmente enthalten, die die Genese des Werks erhellen.

Politische Schriften
Hermann Borchardt: Werke, Bd. 4
Herausgegeben von Hermann Haarmann, Christoph Hesse und Lukas Laier
Göttingen: Wallstein (vorauss. 2025)

Die politischen Schriften Borchardts umspannen den größten Zeitraum seines Lebens. Dazu gehören Artikel aus der Studentenzeit vor dem Ersten Weltkrieg, Pamphlete aus der Zeit der Novemberrevolution und der Weimarer Republik und schließlich die im amerikanischen Exil entstandenen Aufsätze und Broschüren. Von besonderem Interesse ist Borchardts Auseinandersetzung mit dem »totalitären Staat«, den er bereits in den späten 1930er Jahren als solchen bezeichnete. Der vormalige Sozialist und Anarchist trat seither nicht nur als Fürsprecher individueller Freiheit, sondern ebenso als christlicher Autor in Erscheinung, der sich die oft gehörte Schmähung ›Reaktionär‹ ironisch zu eigen machte. Bereits 1919 hatte Borchardt die Führer der Kommunistischen Partei als machthungrige Demagogen kritisiert. Spätestens in der Sowjetunion erkannte er, dass der Kommunismus nicht die Ungleichheit, sondern die Freiheit abschafft; dass er keineswegs die Armut beseitigt, wohl jedoch den Reichtum. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs meldete Borchardt sich als ›deutscher Lehrer‹ zu Wort, und das Wort richtete er dabei nicht nur an die amerikanische Öffentlichkeit, sondern auch an die Deutschen – die es freilich nie erreichte. Zu diesen politisch-pädagogischen Arbeiten zählen auch Vortrags- und Radiomanuskripte zur »Reeducation« Deutschlands.

Philosophische Schriften
Hermann Borchardt: Werke, Bd. 5
Herausgegeben von Hermann Haarmann, Christoph Hesse und Lukas Laier
Göttingen: Wallstein (vorauss. 2026)

Im Mittelpunkt steht der 1946 begonnene, unvollendet gebliebene Traktat über die Unsterblichkeit, den man als Borchardts Vermächtnis ansehen darf. Dem ihm wohlgesinnten Hermann Hesse schickte er, »wie es im Mittelalter die Schriftsteller taten, das tröstliche 9. Kapitel« des Traktats. Weitere Leser hat dieses gewaltige Werk bisher kaum gefunden. In diesem philosophisch-literarischen opus magnum von über 700 Typoskriptseiten nimmt Borchardt es in mal didaktischem, mal spöttischem und stets heiterem Ton mit dem ideologischen Überbau der modernen Welt auf: Materialismus, Skeptizismus, Relativismus, um nur einige Schlagworte zu nennen. Daneben sollen in dem Band sowohl kürzere philosophische Essays als auch Manuskripte der Vorlesungen ediert werden, die Borchardt 1950 an der Université Laval in Québec darüber halten sollte, was sein Gesundheitszustand jedoch schon nicht mehr zuließ.

Bereits erschienene Bände der Edition

Autobiographische Schriften
Hermann Borchardt: Werke, Bd. 1
Herausgegeben von Hermann Haarmann, Christoph Hesse und Lukas Laier
Göttingen: Wallstein 2021, ISBN 978-3-8353-3864-7, 359 S.

Im Mittelpunkt der hier versammelten Selbstzeugnisse steht das von Borchardt so genannte »Lagerbuch«, in dem er Erlebnisse und Beobachtungen beschreibt, die er während seiner Haft in deutschen Konzentrationslagern gemacht hat. Dieses nur fragmentarisch überlieferte Werk, 1938 in den USA entstanden, war vordem allenfalls vom Hörensagen bekannt. Die nun erstmals veröffentlichten Kapitel und Fragmente sind ein frühes historisches Dokument einer damals noch kaum existierenden »Lagerliteratur«. Der in der politischen Publizistik jener Zeit verbreiteten Vorstellung in Solidarität verbundener Gefangener setzt Borchardt eine illusionslose Schilderung entgegen.

Darüber hinaus enthält der Band Aufzeichnungen über den Aufenthalt in der Sowjetunion 1934 bis 1936. Das materielle Elend, das Borchardt dort beobachtete, ebenso wie die allgegenwärtige Furcht vor Denunziation und Verhaftung, nicht zuletzt auch ihm zugetragene Berichte über die infolge der »Kollektivierung« herrschende Hungersnot, führten den einstigen Sozialisten schon früh zu einer unerhört radikalen Kritik der sowjetischen »Staatssklaverei«. Eine makabre Ironie, dass er dem Terror Stalins 1936 entkam, indem er »in deutsche Konzentrationslager geflüchtet« ist. Am Beginn des Bandes steht allerdings ein vergleichsweise heiterer, wenn auch bisweilen ebenso melancholischer Text: Der Club der Harmlosen, ein als »wahre Geschichte« seines Lebens annoncierter Roman, den Borchardt Mitte der 1940er Jahre zu schreiben begann und in dem er seine Kindheit im wilhelminischen Berlin Revue passieren lässt.



»Es ist ein Verdienst der Herausgeber dieser Werkausgabe, dass ein schon zu Lebzeiten weitgehend unbekannter, nach seinem Tod 1951 fast völlig in Vergessenheit geratener Schriftsteller nunmehr kenntnisreich vorgestellt wird.«
Wilfried Weinke, Tageszeitung vom 4.7.2021

»Der Auftakt der Werkausgabe ist jedenfalls gelungen und die Mission schon jetzt geglückt: Borchardt bekommt durch die Ehre einer Werkausgabe den Platz in der Literaturgeschichte, der ihm zeitlebens verwehrt wurde.«
Veronika Schuchter, literaturkritik.de vom 17.9.2021

Stücke
Hermann Borchardt: Werke, Bd. 2
Herausgegeben von Hermann Haarmann, Christoph Hesse und Lukas Laier
Göttingen: Wallstein 2022, ISBN 978-3-8353-5134-9, 687 S.

Borchardts dramatisches Werk umfasst sowohl die in den Jahren 1928/29 in der Theaterabteilung des S. Fischer Verlags in Berlin erschienenen Stücke, die seither nicht mehr erhältlich waren, als auch die im amerikanischen Exil entstandenen, die Borchardt selbst nie veröffentlichen konnte. Die meisten dieser aus dem Nachlass edierten Werke handeln vom christlichen Widerstand gegen den Nationalsozialismus, insbesondere von der Haft im Konzentrationslager. Dazu gehört auch Befreiung des Pfarrers Müller (1938), ein in drei Akten überliefertes, unabgeschlossenes Stück, nach dessen Vorlage Ernst Toller sein bekanntes Drama Pastor Hall (1939) fertigte. Die hier erstmals veröffentlichte »Urschrift«, wie Borchardt sein Szenarium nannte, beweist, in welchem Umfang Toller sich der von ihm selbst nicht genannten Quelle bedient hat.


»Nun wird dieser Autor neu entdeckt: durch eine von Hermann Haarmann, Christoph Hesse und Lukas Laier herausgegebene fünfbändige Werkausgabe im Wallstein Verlag. Die bereits erschienenen ersten zwei Bände zeigen vor allem, welche Bedeutung Borchardt für die deutsche (Exil-)Theatergeschichte hat.«
Kevin Hanschke, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.1.2023

»Mit dieser Edition steht der Lektüre von Borchardts Werken nichts mehr im Weg. Nun sind die Theater am Zug, diesen Texten auch ein Bühnenleben zu schenken.«
Erik Zielke, Neues Deutschland vom 11.7.2022

Christoph Hesse

  • Hermann Borchardt, der »Unterirdische«. Vom Mitarbeiter Brechts zum Ghostwriter Tollers, in: Lydia Mühlbach, Kirsten Reimers, Thorsten Unger (Hg.): Bertolt Brecht und Ernst Toller. Stuttgart: Metzler (im Erscheinen) (mit Lukas Laier)

Lukas Laier

  • Hermann Borchardt, der »Unterirdische«. Vom Mitarbeiter Brechts zum Ghostwriter Tollers, in: Lydia Mühlbach, Kirsten Reimers, Thorsten Unger (Hg.): Bertolt Brecht und Ernst Toller. Stuttgart: Metzler (im Erscheinen) (mit Christoph Hesse)
  • Edieren aus dem Nachlass, in: ZfL Blog, 6.11.2023

Veranstaltungen

Vortrag
05.04.2024 · 10.30 Uhr

Christoph Hesse: »Über den Ozean ausgestreckte Hand. Tut sehr gut …«: Freunde auf der Flucht – Hermann Borchardt und George Grosz

Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Ilse-Zimmermann-Saal, Pariser Str. 1, 10719 Berlin

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