Sowjetisches Dissidententum und Öffentlichkeit zur Zeit der Ent- und Re-Stalinisierung
Die Geschichtsschreibung der sowjetischen Dissidentenbewegung setzt üblicherweise Ende der 1960er Jahre ein und konzentriert sich auf die Wendepunkte, an denen sowjetische Bürger*innen öffentlich zu protestieren begannen. Die hier vorgestellten Untersuchungen nehmen eine andere Perspektive ein, indem sie die allmähliche Entwicklung von sozialen Verhaltensweisen seit dem Übergang zum Poststalinismus erforschen, z.B. das Verhalten bei öffentlichen Versammlungen, im schriftlichen Verkehr mit den Behörden oder mit sowjetischen sowie westlichen Journalist*innen, Politiker*innen aus dem Westen usw. Staatliche Öffentlichkeit und dissidente Gegenöffentlichkeit werden vor diesem Hintergrund nicht als vorgängige Gegensätze betrachtet, sondern es wird analysiert, wie diese sich in der juristischen und publizistischen Auseinandersetzung überhaupt erst konstituieren und welche Praktiken und Diskurse dazu beitragen.
Aktuell geschieht dies in unterschiedlichen Formaten: The Dissident Library und einem Projekt zu Moskauer Dissidenten aus der Sicht von Pawel Litwinow, das von der Andrei Sakharov Foundation gefördert wird.
Das Projekt wurde von Oktober 2022 bis März 2023 aus Mitteln des ZfL und des Matching-Fonds der Leibniz-Gemeinschaft für Unterstützungsleistungen für gefährdete Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Ukraine-Krieg und von April bis September 2022 mit einem Memory-Work-Stipendium der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur an der Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen gefördert.
Abb. oben: Russische Samisdat-Publikationen und Fotonegative von inoffizieller Literatur in der UdSSR, © Nkrita, Moskau 2017, Lizenz CC BY-SA 4.0, Quelle: Wikimedia
Teilprojekte
The Dissident Library
The Dissident Library verfolgt das Ziel, sich aktiv in die Fachdiskussion über die sowjetische Dissidentenbewegung einzubringen und deren Forschungsfragen, methodologische Anliegen und Ergebnisse einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das Projekt besteht aus einer ursprünglich für die mittlerweile aufgelöste russische Menschenrechtsorganisation Memorial konzipierten Online-Seminarreihe, die Forscher*innen aus aller Welt miteinander ins Gespräch bringt, sowie kleineren Gesprächsformaten mit einzelnen Autor*innen. Bei der Diskussion mit Zeitzeug*innen (insbesondere Dissident*innen bzw. Verfasser*innen erster Monographien zum Dissidententum aus den 1970er–80er Jahren) liegt der Schwerpunkt auf der Kontextualisierung und Historisierung früherer Forschungen. So entsteht eine digitale Bibliothek des Dissidententums, die – unter Berücksichtigung verschiedener Forschungsperspektiven – Begriffsdefinitionen, Audio- und Videomaterialien sowie Zeitdokumente versammelt.
Buchwurm
April–September 2022
Das Archivseminar erarbeitet Kommentare zu offenen Briefen sowjetischer Dissident*innen. In einer autoritären, geschlossenen Gesellschaft haben offene Briefe die Funktion, allgemein zugängliche öffentliche Räume zu schaffen, in denen gesellschaftlich bedeutsame, aber von den offiziellen Medien ausgeschlossene Fragen diskutiert werden können. So berichteten sowjetische Dissident*innen in offenen Briefen, die in Sendungen von Radio Free Europe/Radio Liberty zitiert wurden, beispielsweise von Menschenrechtsverletzungen. Viele dieser Briefe sind heute im Archiv Samizdata zu finden, einer über verschiedene Institutionen weltweit verteilten Sammlung von Dokumenten aus dem inoffiziellen Selbstverlag. Am Archivseminar nehmen Studierende verschiedener Universitäten und Länder teil, deren Kooperation dadurch ermöglicht wird, dass das Seminar online stattfindet.
Zwischen Literatur und Fälschung. Gerichtsaufzeichnungen im Prozess gegen Joseph Brodsky (1964/1965)
Oktober 2022–März 2023
Untersucht wird der Prozess gegen den Schriftsteller Joseph Brodsky (1940–1996), der 1964 in der Sowjetunion wegen ›sozialen Parasitentums‹ zu fünf Jahren Exil verurteilt wurde, nach Interventionen sowjetischer und westlicher Intellektueller jedoch bereits 1965 nach Leningrad zurückkehrte. Der Gerichtsprozess war der erste der poststalinistischen Zeit, bei dem das Publikum alternative Gerichtsaufzeichnungen anfertigte und verbreitete. Eine dieser Aufzeichnungen gelangte in den Westen und machte den Fall Brodsky auch dort bekannt. Ebenso wie die offenen Briefe wird diese Aufzeichnung als eine Form von Journalismus verstanden und in dem Projekt als eine zwischen Literatur und Recht, Prosawerk und Dokument oszillierende Gattung untersucht. Erforscht werden soll, wie die Beteiligten (Angeklagte, Verteidiger*innen, Unterstützer*innen) in intensiver Beschäftigung mit den Institutionen und Vertreter*innen des sowjetischen Rechts eigene juridische Rhetoriken, diskursive Strategien und Kommunikationsformen herausbildeten, um ihren Platz in der Gesellschaft neu zu definieren und den Staat zu zwingen, sich mit den Argumenten und Vorwürfen der Gegenseite auseinanderzusetzen.
Moskauer Dissidenten aus der Sicht von Pawel Litwinow: Debatten über Werte, Ziele und Allianzen
April 2023–Dezember 2024
Das Projekt geht auf meine seit 2019 aufgezeichneten Interviews mit Pavel Litvinov zurück, einem der wichtigsten Akteure der Moskauer Dissident*innenenkreise seit den späten 1960er Jahren. In den Schriften der sowjetischen Dissident*innenbewegung, die der politischen Opposition eine moralische, symbolische Form des Protests vorzog, taucht Litvinovs Name immer wieder auf, insbesondere im Zusammenhang mit der Demonstration der Acht auf dem Roten Platz in Moskau im August 1968 gegen den Einmarsch in die Tschechoslowakei. Als Alternative zu den Berichten der staatlichen Institutionen und der Presse sammelte Litvinov Prozessakten; er stand in direktem Austausch mit westlichen Politiker*innen und Journalist*innen und stellte Kontakt zu Dissident*innengruppen in anderen Städten und Republiken der UdSSR her.
Auf Grundlage dieses Materials und meiner Interviews mit Litvinov wird im Projekt das Programm der Moskauer Dissident*innen erforscht – ein Programm, das politische Aktivität als ›dreckig‹ und die Parteidisziplin ablehnte und stattdessen für eine Gesellschaft eintrat, die sich aus einer Moskauer Perspektive, also ohne Zugang zu Presse oder politischen Dokumenten aus dem Westen, auf westliche Werte berufen sollte. Im Zentrum dieses Programms stand der Begriff der Öffentlichkeit, den Litvinov und Larisa Bogoraz in ihrem offenen Brief »An die Weltöffentlichkeit« (1968) problematisierten.
Im Rahmen des Projekts wird eine kommentierte Edition ausgewählter Interviews mit Pavel Litvinov herausgegeben. Diese werden durch Archivmaterial sowie Interviews mit anderen Mitgliedern der Dissident*innenbewegung ergänzt, in denen unter anderem die in den letzten 40 Jahren veröffentlichten Memoiren anderer Dissident*innen reflektiert werden. Ziel ist es, den sozialen Einfluss der Moskauer Dissident*innenkreise innerhalb und außerhalb der UdSSR sowie deren Charakteristika zu erforschen, ohne diese auf die ›sowjetischen Dissident*innen‹ als Ganzes zu übertragen.
Publikationen
«Быть тебе в каталожке...»
Сборник в честь 80-летия Габриэля Суперфина
Olga Rosenblum
- «Plochimi metodami ne postroiš' сhorošee obščestvo.» Diskussii o (ne)nasilii, politike i besovschine v moskovskiсh dissidentskiсh krugaсh 1960-1970-сh gg. [»Mit schlechten Methoden lässt sich keine gute Gesellschaft aufbauen". Diskussionen über (Nicht-)Gewalt, Politik und Teufelei in Moskauer Dissidentenkreisen der 1960er-1970er Jahre«], in: Novoe literaturnoe obozrenie 184 (2023), 285–300
- Obsheščvennyj, narodnyj, metaforičeskij? Sud nad Iosifom Brodskim v zapisi Fridy Vigdorovoi. [Gesellschaftliches Gericht, Volksgericht, metaphorisches Gericht? Der Gerichtsprozess gegen Joseph Brodsky, aufgezeichnet von Frida Vigdorova], in: Olga Rosenblum, Ilja Kukuj (Hg.): «Byt' tebe v kataložke...»: Sbornik v čest' 80-letija Gabrielja Superfina [»Im Knast und im Katalog«. Ein Sammelband zum 80. Geburtstag von Gabriel Superfin]. Frankfurt M.: Esterum Publishing 2023, 507–535
Veranstaltungen
The Dissident Library: Movement of a New Type? Spontaneity and Consciousness Inside the Soviet Dissident Movement
online via Zoom
Olga Rosenblum: Human Rights Discourse within the Human Rights Movement: Disputes over Terms
Boston, MA, USA
Liberation from Violence: The Anthropology of Nonviolence in Russian Cultural History
Boston, MA, USA
Olga Rosenblum: Judases-informers and Cains-conformists: Classifying Guilt for repression under Stalin in Vasily Grossman’s Novel “Everything Flows”
Georgetown University, Intercultural Center (ICC), 1501 Tondorf Rd, Washington, DC 20057, USA
The Dissident Library: Dissidence and (Literary) Nonconformism
online via Zoom
The Dissident Library: Soviet Studies in the FRG: The Cultural Dimension
online via Zoom
The Dissident Library: Soviet Dissident Studies in the FRG: The Political Dimension
online via Zoom
The Dissident Library: Tamizdat: Contraband Russian Literature of the Cold War Era
online via Zoom
Olga Rosenblum: Gründe für den Rückzug: Pavel Litvinov über die Nicht-Kooperation mit der Zeitschrift »Continent«
Zukunft Memorial e.V., Pariser Platz 4a, 10117 Berlin
Olga Rosenblum: Rechtsbeistand und humanitäre Hilfe: Aktuelle Möglichkeiten im Arbeitsalltag russischer Menschenrechtsverteidiger
Universität Konstanz, Gebäude D, Raum 433, Universitätsstraße 10, 78464 Konstanz
The Dissident Library: “Weapons of the Weak” in the USSR and Russia: from 1953 to 2023
online via Zoom
The Dissident Library: Religious Life in the Late Soviet Union
online via Zoom
Olga Rosenblum: Open Letters by Pavel Litvinov: Addressees and Directions of Polemics
Università di Pisa, Dipartimento di Filologia, Letteratura e Linguistica, Aula Magna di Palazzo Boilleau, Via Santa Maria 85, 56126 Pisa, Italien
Olga Rosenblum: Между грехом и Handlungsspielraum: Иуды Гроссмана в контексте других попыток рубежа 1950–1960-х гг. описать ответственность за репрессии
Università Cattolica del Sacro Cuore, Largo Gemelli 1, 20123 Milano, Italien
The Dissident Library: Philosophical Categories in Dissidents’ Statements
online via Zoom
The Dissident Library: Jewish Underground Culture as (Non-)Dissidence
online via Zoom
The Right to Testify. The Public Status of the Witness in Times of Social Change
Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Kronenstraße 5, 10117 Berlin
The Dissident Library: Russian Dissidents and France: Context, Texts, Actions of Solidarity, and Research
online via Zoom
Olga Rosenblum: ›Human Rights‹ vs ›Truth‹: Pavel Litvinov’s Polemic against Alexander Solzhenitsyn
Slavisches Seminar der Universität Tübingen, Wilhelmstraße 50, 72074 Tübingen, Hörsaal 426
The Dissident Library: Das Leben schreiben. Warlam Schalamow: Biographie und Poetik
online via Zoom
Olga Rosenblum: Schestidesjatniki und Generationsproblematik zwischen Khrushchev und Perestrojka
Humboldt-Universität zu Berlin, Dorotheenstr., 65, Raum 5.57
The Dissident Library: Soviet Samizdat: Imagining a New Society
online via Zoom
Olga Rosenblum: Individuals, Not Politicians: Soviet Dissidents in Search of (Political) Contacts in the Mid-1970s
The Palmer House Hilton, 17 E Monroe St, Chicago, IL 60603, USA
Olga Rosenblum: »Sie werden mir verzeihen, dass ich Ihren Namen neben den Aldan-Semjonows gesetzt habe...«: literarische Konnotationen in der Lagerliteratur der ersten Hälfte der 1960er Jahre
Università degli Studi di Milano, Sala Napoleonica, Via Sant’Antonio, 12, 20122 Milano, Italien
The Dissident Library: Kulturraum Lager. Politische Haft und dissidentisches Selbstverständnis in der Sowjetunion nach Stalin
online via Zoom
Olga Rosenblum: Menschen(rechte) in Russland zu verteidigen – 1960er bis 2020er
Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Neuphilologisches Institut - Lehrstuhl für Literatur und Kultur Russlands, Am Hubland, 97074 Würzburg, Raum: 1.004 (Zentrales HS- und Seminargebäude)
Olga Rosenblum: Sowjetische Dissidenten in der Auseinandersetzung mit den Behörden: Verteidigung der Menschenrechte als (keine) Politik
Freie Universität Berlin, Osteuropa-Institut, Garystraße 55, Raum 101
The Dissident Library: The Abuse of Psychiatry
online via Zoom
Olga Rosenblum: Menschenrechte zu verteidigen: zwischen Moral und Politik, zwischen Literatur und Recht, zwischen den 1970ern und 2020ern
Ruhr-Universität Bochum, Universitätsstr. 150, 44801 Bochum, Raum GABF 05/602
The Dissident Library: Non-Conformists. The Ukrainian Intelligentsia in the Dissident Movement, 1960s–1980s
online via Zoom
The Dissident Library: The Oxford Handbook of Soviet Underground Culture
online via Zoom
Beiträge
7.10.2023 Audio
»Открытые письма как форма публичной рефлексии«
Podcast mit Olga Rosenblum
© nlo.media