Links im Bild ist ein Blatt Papier mit unleserlicher Handschrift zu sehen, rechts im Bild ein Gemälde von einer Prozession mit einem großen verzierten Holzwagen in der Mitte, auf dem eine Figur mit rotem Mantel und Krone steht.

Kulturen des Wunders. Prozessionstheater und Bilderkult als globale Vernetzungsphänomene der Frühen Neuzeit

Zur frühneuzeitlichen Fest- und Spielkultur, die weit entfernte kulturelle Räume miteinander verband, gehörten auch Theater und Prozessionen mit lebendig erscheinenden Bildnissen, die zur Sakralisierung ganzer Stadträume führten. Mit der Expansion des spanischen Imperiums seit dem 15. Jahrhundert gelangten der christologische Inkarnationsgedanke und die mit ihm verbundene leibhaftige Bilderverehrung bis nach Lateinamerika und Asien: Sie zeigen sich in den mexikanischen Allegorienspielen von Sor Juana Inés de la Cruz ebenso wie in den philippinischen Reenactments des Kreuzigungsmotivs, der theatralisierten Wundertätigkeit peruanischer Reliquien oder der Aufführung von Mysterienspielen in Japan. Ausgehend vom hispanischen Sakraltheater untersucht das Projekt diese ritualisierten Spielformen auf ihre globalen Implementationen des christlichen Wunderkomplexes. Das Projekt fragt konkret danach, wie die Theatergattungen religiösen Gehalts Blickpraktiken und Kulturtechniken von näher zu definierenden ›Kulturen des Wunders‹ performativ beobachten und verhandeln.

Die Bandbreite an materiellen, ikonischen, kinetischen und sprachlichen Repräsentationsformen, die in der Entwicklungsgeschichte von Prozessionstheater und Bilderkult zum Tragen kommen, lassen ein notorisches Begehren nach Verlebendigung und realistischer Nachbildung des Jenseitigen kenntlich werden. Die kolorierten Holzskulpturengruppen auf ihren Prozessionswagen, die getragenen imágenes de vestir (bekleidete Heiligenfiguren), die tableaux vivants aus schweigenden und unbewegten Darsteller*innen, die nichtsprechenden Tänzer*innen und Mim*innen der Zwischenspiele und schließlich das bewegte, gesprochene und gesungene Sakramentsspiel mit seinen fliegenden Personen und sich verwandelnden Dingen: Sie alle bezeugen eine außergewöhnliche Vielfalt an Wahrnehmungsdispositiven zur Verkörperung des Unsichtbaren. Für das spanische Siglo de Oro (Goldenes Zeitalter, 1550–1700) lässt sich das Vergegenwärtigende in der Visionsmalerei und im liturgischen Drama »auf den Nenner des Wunders bringen« (Belting/Stoichita). Mit ›Wunder‹ als Form von Religion sind hier ein ›Erzählgenus‹ und eine ›soziale Tatsache‹ gemeint, die in ihrem jeweiligen Zeitkontext und ihren Funktionen beschrieben und in ihrer Wahrnehmungsvielfalt nachvollzogen werden können (Auffahrt).

Indem das Projekt die raumübergreifende Gattungsgeschichte des spanischen Fronleichnamsspiels (auto sacramental) aufarbeitet, macht es die globale Zirkulation hispanischer Muster des Wunders sichtbar. Dabei werden die ins animistische zu kippen drohenden Darstellungsstrategien, die in ›Kulturen des Wunders‹ angelegt sind, zu einem wichtigen Bestandteil der kulturellen Abgrenzung des Europäischen mit seinen kolonialen Heterotopien. Ob sich die damit verbundenen Verdrängungsmechanismen bereits im frühneuzeitlichen geistlichen Spiel der hispanisierten Welt niederschlagen, wird das Projekt insbesondere an der synchronen Vernetzung der Aufführungspraxis lateinamerikanischer, südostasiatischer und spanischer Sakramentsspiele untersuchen.

 

Abb. oben:
Titelblatt Sakramentsspiel, Quelle: Lope de Vega: La Margarita Preciosa. Auto Sacramental, Manuskript der Spanischen Nationalbibliothek ca. 1601, 1 [links]
Corpus Christi-Prozession Lima, Peru (anonym, 1674–1680, Parroquia del Hospital de los Naturales), Quelle: Luis Peirano Falconi /Lucila Castro de Trelles (Hg.): Teatro y Fe: Los autos sacramentales en el Peru, Lima: Pontífica Universidad Católica del Perú 2008, 147 [rechts]
gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) 2020–2026
Leitung: Johanna Abel

Publikationen

Johanna Abel, Johannes Gebhardt, Sven Jakstat

Präsenzeffekte
Die Inszenierung der ›Sagrada Forma‹ im Real Monasterio de El Escorial

Bildevidenz
Wallstein, Göttingen 2021, 192 Seiten
ISBN 978-3-8353-5040-3

Johanna Abel

 

Veranstaltungen

Vortrag
22.03.2024 · 16.10 Uhr

Johanna Abel: Processional theatre as »poético numen«: a global performance genre in the early modern Hispanic world

Chicago, USA

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Vortrag
24.11.2023 · 14.30 Uhr

Johanna Abel: Abjekte Wiederverkörperung im Sakraltheater. Idolatriefigur und animierte Hostie als ›imagines agentes‹ im hispanischen Geistlichen Spiel

Freie Universität Berlin, EXC 2020 »Temporal Communities«, Raum 00.05, Otto-von-Simson-Str. 15, 14195 Berlin

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Vortrag
24.02.2023 · 11.15 Uhr

Johanna Abel: Mother of Pearl and Flowering Body: On the Transmaterial Staging of Miracles in Hispanic Liturgical Drama of the Early Modern Period

Warburg-Haus Hamburg, Heilwigstraße 116, 20249 Hamburg

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Vortrag
06.05.2022

Johanna Abel: Staging the King’s Image: The Dynamics of Presence in Spanish Sacramental Plays

Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

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Vortrag
05.10.2021 · 14.30 Uhr

Johanna Abel: »Abrázanse las dos«: Berührung und Kontakt als kinästhetische Verfahren im hispanischen Geistlichen Spiel

Universität Augsburg

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