Komposition und Gemeinschaft. Polyphonie jenseits des Musikalischen 1800/1900/1950
Polyphonie [Πολυφωνία, Vielstimmigkeit] – der Satz mehrerer, gleichzeitig aufgeführter Stimmen – ist seit dem Mittelalter eine gängige Technik der abendländischen Komposition. Doch mit der Etablierung der Ästhetik als neuer Wissenschaft der sinnlichen Wahrnehmung und der damit einhergehenden »Ästhetisierung der Künste« im 18. Jahrhundert gerieten Theorie und Praxis der Polyphonie aus den Fugen: Denn wie ist die Wahrnehmung mehrerer Stimmen unabhängig voneinander und dennoch gleichzeitig als vereinheitlichendes Phänomen überhaupt möglich? Und wenn eine polyphone Wahrnehmung gar nicht möglich ist, wie kann es dann polyphone Komposition geben? Ausgehend von diesen Überlegungen betrachtet das Projekt die musikalische Polyphonie im 18. Jahrhundert nicht nur als eigentümliches Problem der Ästhetik, sondern auch ihre konstitutive Rolle für Diskurse jenseits der Musik. Anhand der Lektüre musiktheoretischer Texte soll deshalb zunächst gezeigt werden, wie vielstimmige Musik um 1800 Jahrhundert neu begründet wurde, und wie sich vor diesem rein ästhetischen Hintergrund neuartige Vorstellungen von Subjekt und Gesellschaft sowie von Bildung und literarischem Schreiben nachverfolgen lassen.
Das Projekt strebt keine Begriffsgeschichte im klassischen Sinne an, sondern erschließt musikalische Polyphonie als mal expliziten, mal impliziten Rahmen und Bezugspunkt verschiedenartiger außermusikalischer Fragen und Debatten vom 18. Jahrhundert bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die theoretische Leitfrage des Projekts über die technische Möglichkeit polyphoner Komposition wird somit als historisch und kulturell bedingt verstanden. So wird für das 18. Jahrhundert etwa A. G. Baumgartens Erörterung des ästhetischen ›Ganzen‹ im Gedicht zusammen mit Heinrich Christoph Kochs Versuch einer Anleitung zur Composition gelesen, um dadurch Denis Diderots dialogische Experimente und Novalis’ literarische Vorstellungen von Gemeinschaftsbildung neu zu beleuchten. Für das 20. Jahrhundert zeichnet das Projekt anhand von Adornos musiktheoretischen Schriften und Hermann Brochs essayistischem Werk sowie vor dem Hintergrund musiktheoretischer Bezüge in der Soziologie um 1900 eine Umkehrung des bis dahin wahrgenommenen gemeinschaftsstiftenden Potenzials der Polyphonie nach. Als musikalische Technik bezeichnet Polyphonie um die Mitte des 20. Jahrhunderts nicht mehr das Zusammensetzen voneinander abhängiger Stimmen, sondern in erster Linie das Parallelführen und Auseinanderfallen gleichzeitig ausgeführter Elemente, was schließlich, so Adorno in einem Vortrag aus dem Jahr 1957, zu einer »Vielstimmigkeit ohne Gemeinde« führe.
Abb. oben: Josef Albers: Fuge (Fugue), ca. 1926, sandgestrahltes Überfangglas mit schwarzer Farbe, © 2024 The Josef and Anni Albers Foundation/VG Bild-Kunst, Bonn. Mit freundlicher Genehmigung der Josef and Anni Albers Foundation.