Marx in Frankreich. Die Selbstbestimmung der französischen Theorie (1945–1995)
Die verschlungene, oft widersprüchliche französische Marxrezeption setzte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs immer wieder entscheidende Impulse für eine anhaltende, beispiellose Beschäftigung mit dem Problem der Selbstbestimmung: Die Frage nach dem Sinn und Zweck von Theorie und nach der Rolle der Intellektuellen in der und für die Gesellschaft scheint in den Debatten der Zeit allgegenwärtig. Dabei handelte es sich jedoch keineswegs um eine nachträgliche, metatheoretische oder deskriptive Bestimmung von Theorie. Das Problem der Selbstbestimmung wurde vielmehr selbst zur ersten Frage und warf so zugleich die Frage nach der Autonomie oder Heteronomie des Denkens auf. Das Forschungsprojekt nimmt die vielseitige Aufnahme, die Marx in Frankreich gefunden hat, die implizite und explizite Affirmation, Lektüre, Transformation und Zurückweisung seiner Ideen und Schriften zum Ausgangspunkt, um fünfzig Jahre französische Theoriegeschichte zu rekonstruieren.
Theorie, der es darauf ankommt, die Welt zu verändern, kann sich nur ausgehend von der im Umbruch befindlichen politischen, gesellschaftlichen, institutionellen und wissenschaftlichen Realität bestimmen. Die Selbstbestimmung der französischen Theorie geschieht nicht im luftleeren Raum, ist vielmehr skandiert durch die Zäsuren der Epoche: durch den Algerienkrieg, die Gründung der Fünften Republik, die Ereignisse des Mai 68, die folgenreiche Tötung Hélène Rytmanns oder den Zusammenbruch der Sowjetunion. Und auch die Geschichte der aus der Selbstbestimmung resultierenden politischen Interventionen lässt sich nur als konkrete Geschichte der intellektuellen Zirkel, der akademischen und nichtakademischen Institutionen, der Verlage, Buchreihen und Zeitschriften schreiben.
Das Projekt möchte diese wechselhafte Geschichte nicht nur nachzeichnen, sondern ihre vereinenden, charakteristischen Züge herausarbeiten. Die Aufnahme von Marx’ Denken stellte die Vorstellung einer philosophia perennis ebenso wie den Philosophozentrismus der Tradition infrage: Theorie konnte sich fortan weder als weltabgewandte Spekulation noch als höchste Möglichkeit der menschlichen Existenz oder als absoluter Moment der Geschichte bestimmen. Im Handgemenge mit der konkreten, chaotischen Geschichte muss sie vielmehr selbst Geschichten erzählen, steht seit Sartre wesentlich in einer Auseinandersetzung mit dem Literarischen, dem Autobiographischen und der Psychoanalyse und sieht sich seit Lévi-Strauss’ frühen Interventionen unablässig mit dem Grundproblem des philosophischen Eurozentrismus konfrontiert. Diesen dezentrierenden Bewegungen folgt das Projekt, um so der Frage nachzugehen, ob sich in dieser Geschichte dennoch etwas wie ein gemeinsamer Denkstil herausbildet – eine die strategischen und ideologischen Unterschiede umgreifende ›Politik‹ im weitesten Sinn des Wortes, die auch für das Hier und Jetzt produktiv gemacht werden kann.
Abb. oben: Zentrale der kommunistischen Partei Frankreichs, Paris, nach einem Entwurf von Oscar Niemeyer, © Lauren Manning, Lizenz CC BY 2.0
Publikationen
Der rote Faden
Maurice Merleau-Ponty und die Politik der Wahrnehmung
Jacques Derrida: Geschlecht III
Geschlecht, Rasse, Nation, Menschheit
Oliver Precht
- An Land gehen. Zum Gedenken an Michel Serres, in: Philosophische Rundschau 68 (2021), 1–13
- Philosophy and Nonphilosophy: On Derrida’s Theory and Practice [Rezension zu: Jacques Derrida: Theory and Practice. Chicago 2019], in: Interpretation. A Journal of Political Philosophy 48 (2021), 137–142
- Einvernehmliches Unvernehmen [Rezension zu: Axel Honneth, Jacques Rancière: Anerkennung oder Unvernehmen? Berlin 2021], in: Soziopolis, 26.11.2021
- Derrida über Kafka, in: Andrea Allerkamp, Sarah Schmidt (Hg.): Handbuch Literatur & Philosophie. Berlin: de Gruyter 2021, 443–447
- Philosophy and Nonphilosophy: On Derrida’s Theory and Practice, in: Interpretation. A Journal of Political Philosophy 48.1 (Herbst 2021), 137–142
- Derridas Doppelzüngigkeit. Zur Übersetzbarkeit von Schlangenwendungen, in: Wolfgang Hottner (Hg.): Theorieübersetzungsgeschichte. Deutsch-französischer und transatlantischer Theorietransfer im 20. Jahrhundert. Stuttgart: J.B. Metzler 2021, 143–153
- Weltverlust und Selbstbehauptung. Politische Ökologie und politische Philosophie bei Bruno Latour, in: Björn Bertrams, Antonio Roselli (Hg.): Selbstverlust und Welterfahrung. Erkundungen einer pathischen Moderne. Wien/Berlin: Turia + Kant 2021, 69–89
- Verfinsterungen. Derridas Geschlecht III und die Frage des philosophischen Nationalismus, in: Jacques Derrida: Geschlecht III. Geschlecht, Rasse, Nation, Menschheit, übers. von Johannes Kleinbeck und Oliver Precht. Wien/Berlin: Turia + Kant 2021, 159–185 (mit Johannes Kleinbeck)
- Portrait of a Philosopher (Notes on a New Biography on Jacques Derrida), in: ZfL Blog, 7.5.2021
Veranstaltungen
Oliver Precht: »Soyez justes«: Politik und Übersetzung bei Derrida
Universität Zürich, Plattenstrasse 43, 8032, Zürich, PLG PLG-2-211
Oliver Precht: Maurice Merleau-Ponty: Der Geist von Marx und der Leib des Marxismus
Helle Panke e.V. – Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin, Kopenhagener Str. 9, 10437 Berlin
Theoriepolitik – ein Gespräch mit Morten Paul und Oliver Precht
Freitagsküche, Mainzer Landstraße 105, Hinterhaus, 60329 Frankfurt a.M.
Oliver Precht: Merleau-Pontys ›Vorlesungszusammenfassungen‹
Freie Universität Berlin, Habelschwerdter Allee 45, Raum JK 31/121, 14195 Berlin
Oliver Precht: Was heißt: sich im Sehen orientieren? Merleau-Pontys Politik der Wahrnehmung
Online
Oliver Precht: Politik der Wahrnehmung. Maurice Merleau-Ponty über den Zufall und die Revolution
online via Zoom
Medienecho
Rezension von Maurice Schuhmann, in: Kultur und Politik. Cultureglobe, 19.1.2024