Strategien der Kritik. Eine systematische Rekonstruktion der Debatte um die documenta fifteen
Antisemitismusvorwürfe gegen das kuratierende Kollektiv ruangrupa und verschiedene Exponate machten die fünfzehnte Ausgabe der »Weltkunstschau« documenta im Jahr 2022 zum Brennpunkt einer hitzigen Debatte in der deutschen Öffentlichkeit, die ihrerseits zu einem kulturpolitischen Ereignis mit globalen Nachwirkungen wurde.
Das Projekt will die Schärfe der Kontroverse erklären und sie zugleich als produktives Streitgeschehen in Erinnerung rufen, von dem heute noch einiges zu lernen ist. Zu diesem Zweck rekonstruiert es den Debattenverlauf in deutschen Zeitungen und im sozialen Netzwerk Twitter und interessiert sich insbesondere dafür, wie dort Kritik geübt wurde: Wie haben die unterschiedlichsten Sprecher:innen Urteile gefällt, Unterscheidungen getroffen und auf Rechte, Normen und Gegenpositionen Bezug genommen? Dabei greift das Projekt ein Problembewusstsein auf, das in der Debatte bereits verbreitet war. Nämlich, dass darin Kritik strategisch geübt wurde, dass sie also planvoll, interessengeleitet und auf Effekt bedacht agierte, dass sie keiner deliberativen, sondern einer polemischen Logik folgte und womöglich gar nicht das sagte, was sie meinte. So gab es beispielsweise Vorwürfe gegen israelkritische Einlassungen, chiffriert oder auf Umwegen Antisemitismus zu verbreiten; den Vorwürfen selbst wurde wiederum unterstellt, strategisch auf eine Unterdrückung legitimer Kritik abzuzielen.
Das Projekt führt mit dem Versuch, auch die strategische Orientierung kritischer Praktiken empirisch zu erfassen, nicht nur einen neuen Ansatz in die geistes- und sozialwissenschaftliche Kritikforschung ein und bringt sie in Dialog mit der Antisemitismusforschung. Es überprüft auch die These, dass der Verlauf dieser Kontroverse nicht Ausdruck eines spezifisch deutschen Umgangs mit Antisemitismus oder einer von den sozialen Medien getriebenen Polarisierungsdynamik gewesen sei, sondern des Problems, das eine potentiell strategisch verfahrende Kritik in liberalen Öffentlichkeiten aufwirft. Denn bereits die Wahrnehmung, dass andere Kritik strategisch üben, führt zu Debattendynamiken, die der in liberalen Öffentlichkeiten vorherrschenden Idealvorstellung eines argumentativen Meinungsaustauschs zuwiderlaufen. Da auch Meinungsäußerungen, die Antisemitismus chiffriert verbreiten könnten, dort von der Meinungs- und Kunstfreiheit weitgehend geschützt sind, provozieren sie zunächst eine potentiell ebenso strategische ›Gegen-Kritik‹, die liberale Ideale wie die individuellen Freiheiten, die offene Diskussion oder den Universalismus für ihre Zwecke einsetzt.
Die Untersuchung der Strategien der Kritik wird damit zum zentralen Bestandteil einer umfassenden Historisierung der documenta-Debatte, die ein reflexives Wissen über ihre Streitgegenstände generiert, wiederkehrende Kritikformen erfasst und daran mitarbeiten will, einen Denkraum zu öffnen, der künftig andere Debattenverläufe möglich macht.