Rezeptionen und Transformationen des Pragmatismus in Frankreich
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fand ein reger transatlantischer Ideentransfer statt, in dessen Mittelpunkt in Frankreich der Streit um den angloamerikanischen Pragmatismus stand. Als Émile Durkheim im Dezember 1913 an der Pariser Sorbonne seine Vorlesung über Pragmatismus und Soziologie begann, diagnostizierte er mit Blick auf die damals noch recht junge philosophische Tendenz, die den philosophischen Gehalt einer Vorstellung von ihren praktischen Wirkungen her zu beurteilen suchte, »einen Angriff auf die Vernunft, einen regelrechten Kampf, der in voller Rüstung ausgetragen wird«. Durch ihn geriete nicht nur der traditionelle Rationalismus, sondern auch die französische Kultur und die Philosophie überhaupt unter Druck. Durkheim folgerte, dass auch diese, »wenn der Pragmatismus recht hätte«, umgestürzt werden müssten. Diese Formulierungen bezeugen die Irritation, die der Pragmatismus in einigen Sphären des europäischen Denkens auslöste. Während die einen ihn eher als eine Bedrohung sahen, erkannten wiederum andere eine Möglichkeit zur Erneuerung, zur Entwicklung eines »Bildes des Denkens«, das Subjektivitäten, die in der Welt (und nicht in einem abstrakten Raum des radikalisierten Zweifels) konstituiert werden, besser entspräche. So konstatierte etwa Gilles Deleuze mehr als ein halbes Jahrhundert später im Aufsatz über Die Überlegenheit der angloamerikanischen Literatur, dass in seiner philosophischen Sozialisierung neben Sartre »der wichtigste französische Philosoph Jean Wahl« gewesen sei; dessen Verdienst habe unter anderem gerade darin bestanden, »uns mit dem angloamerikanischen Denken bekannt gemacht und es fertiggebracht zu haben, uns im Französischen ganz neue Dinge denken zu lassen«. Deleuze charakterisierte so einen anderen Aspekt der französischen Rezeption des Pragmatismus und des angloamerikanischen Denkens, der schon zu Beginn des Jahrhunderts etwa bei Henri Bergson und später bei Wahl oder Édouard Le Roy seine Wirkung zeigte: Man sah darin ein Potential zur Reaktivierung einer philosophischen Kreativität, die durch den als steril empfundenen universitären Diskurs eher gehemmt schien.
Das Dissertationsprojekt analysiert die Bedeutung des klassischen amerikanischen Pragmatismus und des mit ihm eng verschränkten ›radikalen Empirismus‹ in der Entwicklung der französischen Philosophie im 20. Jahrhundert. Dafür sollen die pragmatistischen Konstellationen und Rezeptionslinien, deren Rolle insbesondere im Vergleich zu denen der deutschen Philosophie bislang allzu leicht übersehen wurde, genauer untersucht werden. Auch mit Blick auf die aktuelle Renaissance des Pragmatismus in Frankreich wird so das transatlantische ›Sozialleben‹ der Ideen erforscht, das vorherrschende Narrative nationaler philosophischer Einheit provoziert und somit ad absurdum führt.