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Digitale Sprache. Linguistik, Kommunikationsforschung und Poetik im frühen Informationszeitalter

Das Forschungsprojekt untersucht in breiter wissensgeschichtlicher Perspektive die Zusammenhänge von Digitalität und natürlicher Sprache, die sich an den disziplinären und diskursiven Schnittstellen von Linguistik, Kybernetik, Informationstheorie und Poetik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausformen. Ziel ist es, in diesem Zeitraum entstehende Konzepte von ›digitaler Sprache‹ in ihren epistemischen Grundlagen, technischen Bedingungen, politisch-institutionellen Kontexten und kulturellen Funktionen zu analysieren und auf diese Weise die frühe Genealogie des sogenannten information age einer neuen Betrachtung zu unterziehen. Anders als in gängigen Studien zu den Anfängen des Computerzeitalters liegt der Fokus dabei nicht allein – bzw. nicht vorrangig – auf der Ausprägung des Digitalen in Gestalt von binär codierter und elektronisch prozessierter Information, wie sie mit dem Bau erster Großrechner und der Entwicklung von Programmiersprachen in den Nachkriegsjahrzehnten allmählich ihren Siegeszug anzutreten beginnt. Vielmehr verfolgt das Projekt die Frage, wie sich – parallel zur maschinellen Datenverarbeitung auf der Basis mathematisch-formaler Codierung – weitaus umfangreichere Vorstellungen von Digitalität konstituieren, die zusehends auch, ja vor allem das Wissen vom Aufbau und Funktionieren natürlicher Sprachen prägen. Als Feld der Untersuchung dient ein entsprechend weit gefasstes Korpus aus Theorien, Forschungsdesigns, experimentellen Praktiken, Technologien und (Auf-)Schreibverfahren, durch die das ›alte‹ Medium Sprache als ein digitales Kommunikationsmittel neu bestimmt bzw. bestimmbar gemacht, d.h. in seinen phonematischen, lexikalischen, grammatischen und syntaktischen Strukturen analysiert sowie – aufbauend auf diesen wissenschaftlichen Strategien – auch im Kontext ästhetischer Programme als Wissensgegenstand formiert und reflektiert wurde.

Ein erster Schwerpunkt des Projekts liegt auf den Arbeiten der am MIT (Massachusetts Institute of Technology) etablierten »Linguistics Group« um Forscher wie Roman Jakobson und Morris Halle sowie auf den in diesem institutionellen Kontext veranstalteten »Speech Communication Conferences«. Rekonstruiert werden soll, wie im Rahmen dieser höchst interdisziplinären Debatten zwischen Sprachwissenschaftlern, Biologen, Ingenieuren und Kommunikationstheoretikern eine phonologische Re-Interpretation und technologisch begründete Fortentwicklung der Saussure’schen Linguistik mit neueren Modellen der Nachrichtenübertragung und statistischen Sprachanalyse (z.B. Claude Shannon, Benoît Mandelbrot) konvergiert; exemplarisch zeigt sich dies etwa an Versuchen, den ›Informationswert‹ einzelner Sprachäußerungen in der quantitativen Einheit von ›bits‹ zu erfassen, oder die Bildungsgesetze ganzer natürlicher Sprachsysteme bzw. ›Codes‹ mithilfe stochastischer Verfahren zu definieren.

In einem zweiten Schwerpunkt untersucht das Projekt die Aufnahme, Weiterführung und Übertragung dieser Zusammenhänge in den deutschen Wissenschaftsraum, wie sie an den Arbeiten von Forschern wie Werner Meyer-Eppler, Paul Menzerath und Max Bense zu beobachten ist. Meyer-Epplers Experimente zur Buchstabenverteilung in Drucktexten etwa, die er am Bonner Institut für Phonetik und Kommunikationsforschung durchführte, artikulieren ebenso ein informationstheoretisch fundiertes Interesse an den digitalen Strukturen von Sprache wie Benses an der Technischen Hochschule Stuttgart praktizierte Methoden zur ›stilometrischen‹ Analyse literarischer Werke. Zumal anhand von Benses weitreichendem Programm einer quantitativen Informationsästhetik gilt es dabei nicht allein zu verfolgen, wie Digitalität als zentrales Organisationsprinzip von Sprache und Texten konzipiert wurde, das in der repertoirebasierten Selektion und sequentiellen Kombination von ›diskreten‹ Elementen wie Phonemen oder alphabetischen Schriftzeichen beruht. Vielmehr sind ebenso die politischen Implikationen dieses Wissens aufzuarbeiten, das mit dem Projekt digitaler Sprach-Analysen auch den Anspruch auf eine – vermeintlich ideologiefreie – ›Rationalisierung‹ gesellschaftlicher und akademischer Kommunikationsprozesse verband.

Ein dritter Untersuchungsschwerpunkt ist schließlich der Reflexion und Inszenierung digitaler Sprachmodelle im Kontext der Konkreten Poesie gewidmet, wie sie sich im direkten Austausch mit Entwicklungen in Linguistik, Kybernetik und Informationstheorie formierte. Das Interesse gilt hier zum einen der Frage, wie das Wissen dieser Disziplinen in den poetischen Programmen und textuellen Praktiken international vernetzter Autoren-Gruppierungen (u.a. Stuttgarter Schule, Noigandres-Dichter in Brasilien, Wiener Gruppe) aufgegriffen und rekonfiguriert wurde. Zum anderen ist im Sinne einer umfassenden wissens-poetischen Perspektive auch zu erschließen, wie literarische Strategien eines spezifisch ›digitalen Schreibens‹ als Inspiration, Beispiel oder Analysegegenstand auf wissenschaftliche Modellbildungen (zurück) gewirkt haben.

Durch die Erforschung der genannten Übersetzungsprozesse zwischen verschiedenen Wissensfeldern, -kontexten und -formen soll das Projekt ein grundlegendes Kapitel in der diskursiven Genealogie des Digitalen aufarbeiten. Im Fokus steht dessen frühe Entwicklung als Konzept des Wissens von sprachlichen Kommunikationsprozessen und somit ein Aspekt seiner Geschichte, der auch in maßgebenden Studien zum Thema bislang allenfalls eine marginale Rolle gespielt hat. Leitend für das Projekt ist zudem die Annahme, dass anhand der frühen Vorstellungen von ›digitaler Sprache‹ nicht nur ein neuer Zugang zur Anfangsphase des Informationszeitalters zu gewinnen ist, sondern dass eine solche historisch-genealogische Rekonstruktion zugleich substanzielle Impulse für die aktuell breit geführten Debatten zum Verhältnis von Digitalität und Wissen(schaft) zu liefern verspricht.

 

Abb. oben: Werner Meyer-Eppler: Grundlagen und Anwendungen der Informationstheorie. Berlin: Springer 1959, 312

Heisenberg-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) 2021–2026
Leitung: Tobias Wilke

Publikationen

Tobias Wilke

Veranstaltungen

Konferenz
29.05.2024 – 31.05.2024

Semiotic Machines: Artificial Text and the Praxis of Reading

Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Eberhard-Lämmert-Saal, Eingang Meierottostr. 8, 10719 Berlin

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Vortrag
26.01.2024 · 17.30 Uhr

Tobias Wilke: »Die Geburt der Poesie aus dem Geist der Maschine«: Max Bense and the Task of Automatic Writing

University of North Carolina Chapel Hill, Department of Germanic and Slavic Languages and Literatures

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