Diffraktive Epistemik: Wissenskulturen der Digital Humanities
Das Forschungsprojekt widmete sich Wissensmodellierungen, wie sie gegenwärtig in den Digital Humanities (DH) verhandelt werden. Dazu zählen unter anderem Formen von digitalen Wissensrepräsentationen sowie statistische Logiken des Schlussfolgerns. Das Projekt nahm die DH als eine Wissenskultur mit eigener Historizität in den Blick, in der sich heterogene epistemische Tendenzen überlagern. Über eine reflexive Modellierung geisteswissenschaftlicher Erkenntnisprozesse im Digitalen hinaus ging es von einer Durchdringung unterschiedlicher wissensbasierter Systeme aus. Leitend war die Frage, wie Wissensproduktionen durch die Digitalität berührt, organisiert und modifiziert werden. In einzelnen Fallstudien wurden Voraussetzungen, Bedingungen und Implikationen computergestützter Erkenntnisverfahren in den DH beschrieben. Als Beschreibungskategorie, Betrachtungsmodus sowie Verfahrensweise eröffnete der Diffraktionsbegriff, der einer Beschreibung von Differenzen in besonderem Maße Rechnung trägt, drei Perspektiven, die im Forschungsprojekt untersucht wurden:
Einen ersten Zugang zur Wissenskultur der DH bildete eine Auseinandersetzung mit ihren Begriffen. Von Interesse war insbesondere der biologisch geprägte Begriffsapparat (z. B. Softwareökosysteme, Datenlebenszyklus). In der Erprobung von computerlinguistischen und communitybasierten Verfahrensweisen verfolgte das Projekt zusammen mit der Computational Humanities Group der Universität Leipzig sowie der Arbeitsgruppe Digital Humanities Theorie ausgewählte Begriffsentwicklungen unter anderem in Korpora von DH-Schriften.
Mit Bezug auf die Materialität diskutierte das Forschungsprojekt zweitens multimodale Gefüge von Wissensmodellierungen. Zu den etablierten Strukturen der diskursiven Erkenntnis treten in den DH neue materielle Verkörperungen von Wissen. Wie das Forschungsprojekt zeigen konnte, lassen sich Software und Code als rechnergestützte Ausdrucksformen der Wissenskultur der DH begreifen. Sie manifestieren sich nicht nur in konkreten Forschungsinfrastrukturen, sondern stellen auch tradierte Lese- und Schreibpraktiken der Geisteswissenschaften zur Disposition.
Eine dritte Perspektive stellte die Beschreibung von Forschungsdaten dar. Kennzeichnend für die DH ist eine datenbasierte Wissensmodellierung. Im Forschungsprojekt wurden Fallstudien mit konkreten Datensammlungen und Algorithmen zum Anlass genommen, um Kontingenzen von Datafizierungen aufzuzeigen. Dabei ging es einerseits darum, Abstand zu technologischen Absolutheitsansprüchen zu gewinnen und diese in ihrem Geltungsbereich zu reflektieren. Mit Bezug auf die Denkströmung der Neuen Materialismen und Science & Technology Studies erschloss das Forschungsprojekt andererseits mögliche Alternativen von Datenpraktiken und Inferenzbildungen.
Die drei Perspektiven – Begriffe, Materialitäten, Daten – stellten wissenschaftstheoretische Zugänge in Aussicht, die einer interdisziplinären Verortung der DH zwischen Informatik und Geisteswissenschaft Rechnung trugen. Zugleich lotete das Forschungsprojekt so auch Übergänge und Öffnungen zu anderen Wissenskulturen aus.
Abb. oben: Vektorisierte Version einer Skizze von Thomas Young zur Veranschaulichung der Diffraktion von Licht, Quelle: Wikimedia Commons
Publikationen
Theorytellings: Epistemic Narratives in the Digital Humanities
Special Issue Journal of Cultural Analytics
Rabea Kleymann
- Conceptual Forays: A Corpus-based Study of »Theory« in Digital Humanities Journals, in: Journal of Cultural Analytics 7.4 (2022) = Theorytellings: Epistemic Narratives in the Digital Humanities, hg. von Rabea Kleymann, Manuel Burghardt, Jonathan D. Geiger, Mareike Schumacher (mit Andreas Niekler, Manuel Burghardt)
- Datendiffraktion: Von Mixed zu Entangled Methods in den Digital Humanities, in: Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften / Sonderbände 5 (2022) = Fabrikation von Erkenntnis – Experimente in den Digital Humanities, hg. von Manuel Burghardt, Lisa Dieckmann, Timo Steyer, Peer Trilcke, Niels Walkowski, Joëlle Weis und Ulrike Wuttke
- Rezension zu: Wolfgang Hottner: Kristallisationen. Ästhetik und Poetik des Anorganischen im späten 18. Jahrhundert, Göttingen: Wallstein 2020, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 4 (2021), 633–637
- Über das Erzählwürdige der Theorie in den Digital Humanities, in: ZfL Blog, 8.2.2021
Veranstaltungen
Rabea Kleymann: Epistemologien digitaler Forschung. Eine Annäherung
RWTH Aachen, Theaterplatz 14, 52062 Aachen, Dautzenberg-Raum
Algorithmen anwenden – algorithmisch denken. »Algorithmizität« als Brücke zwischen Geisteswissenschaften und Informatik?
Maison du Savoir – Auditoires 2, avenue de l’Université, 4365 Esch-sur-Alzette, Luxemburg
Rabea Kleymann: Das Ende der Theorie? Narrative in den Wissenskulturen der Digital Humanities
Universität Leipzig, Vortragssaal der Bibliotheca Albertina, Beethovenstr. 6, 04107 Leipzig / Livestream
The many faces of theory in DH. Toward a dictionary of theoreticians mentioned in three DH journals (mit Rabea Kleymann)
Online via Zoom
Rabea Kleymann: Calling APIs Diffractively: Imagining Relational Readings of Code
Madrid
Rabea Kleymann: Inkommensurable Mannigfaltigkeiten: Aggregate beim späten Goethe
Freie Universität Berlin, Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin, Seminarzentrum
Algorithmizität als Kultur des Verstehens? Digitale Erkenntnisprozesse in den Humanities
Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL), Schützenstraße 18, 10117 Berlin, 3. Etage, Trajekte-Tagungsraum / Zoom
Rabea Kleymann: Reading Code Diffractively in Digital Humanities Pedagogy
Online
Rabea Kleymann: Wissensmaschinerien: Forschungsdesigns in den Digital Humanities
Freie Universität Berlin, Seminarzentrum, Raum L116 (Rostlaube)
Rabea Kleymann: Mixed Methods als Denkstil? Forschungsdesigns der Stilometrie in den Digital Humanities
online via Zoom
Rabea Kleymann und Jan Horstmann: Hacker*innenangriff auf Goethe? Experimente mit Goethetexten und Annotationsdaten von Entsagung und Ironie
online via Zoom
Rabea Kleymann: Entangled Methods. Diffractive Approaches for the Digital Humanities
online via ConfTool
Glossar der Begriffe: Ein kollaboratives Schreibexperiment der AG Digital Humanities Theorie
online via Zoom
Von Knoten und Kanten zu Gedanken: Theoretische Reflexionen zu Graphentechnologien
online via Zoom
Rabea Kleymann: »Theorytellings«. Wissenschaftsnarrative in den Digital Humanities – Eine Einführung
Bibliotheca Albertina, Beethovenstraße 6, 04107 Leipzig
Beiträge
8.3.2023 Audio
RaDiHum20 spricht mit der AG Digital Humanities Theorie über die DHd2023
Podcast mit Rabea Kleymann und Jonathan Geiger
© RaDiHum20
20.8.2020 Audio
RaDiHum20 spricht mit der AG Digital Humanities Theorie
Podcast mit Rabea Kleymann und Jonathan Geiger
© RaDiHum20