Programmbereich Theoriegeschichte
In der antiken philosophischen Tradition war ›Theorie‹ Anschauung desjenigen, was sich der sinnlichen Wahrnehmung entzieht. Modern wird sie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts auch zum Inbegriff von Erkenntnisbemühungen um solche Gegenstände, die mit den überlieferten Beobachtungsrastern und Analysekategorien nicht mehr zu erfassen sind und deshalb neue Sicht- und Zugangsweisen fordern. Die Krise der Rhetoriktradition seit der Aufklärung zeitigt nicht nur die von Baumgarten 1750 begründete Disziplin der ›philosophischen Ästhetik‹, sondern auch neue Formen ästhetischer Theoriebildung (etwa im modernen Essay oder dem romantischen Fragment). Der anschließende Neuzuschnitt der Natur- und Geisteswissenschaften während des 19. Jahrhunderts spiegelt sich zunächst in der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik und später in den kulturwissenschaftlichen Theorien des frühen 20. Jahrhunderts und der Zwischenkriegszeit wider. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird theory im Anschluss an die Kritische Theorie der Frankfurter Schule zu einem zwar allseits akzeptierten, aber kaum reflektierten oder historisierten Komplex sehr verschiedener Diskurse. Theory in diesem jüngeren Sinne bezieht ihre Anregungen aus heterogenen Quellen und scheint in der jüngsten Gegenwart der Dynamik sich beschleunigender Paradigmenwechsel oder turns zu gehorchen. Jüngst ist auch von einem ›Ende der Theorie‹ die Rede.
Auf diesem Hintergrund versuchen die Forschungen des ZfL, Theoriebildung nicht nur zu beobachten, sondern auch auf ihre Genese zurückzublicken. In dieser Perspektive werden die diskursiven Verschiebungen und die historischen Erfahrungen untersucht, die verschiedene Formen und Funktionen von Theorie in Konkurrenz untereinander, aber auch in Abgrenzung zu akademischen Fächern wie etwa der Soziologie oder der Philosophie, bis heute bestimmen. Das Interesse richtet sich dabei sowohl auf die Entstehungsbedingungen wie auch auf anschließende Prozesse der Verbreitung, Modifikation oder Übertragung. So ist im Fall der Kritischen Theorie ihre Entstehung in der Krise der Weimarer Republik und aus den deutsch-jüdischen Traditionen vieler ihrer frühen Autoren ebenso zu analysieren wie ihr Transfer in die amerikanische Emigration und die oft indirekten Wege ihrer globalen Rezeption, einschließlich ihres Reimportes in die Bundesrepublik nach 1945 sowie ihres erfolgreichen außereuropäischen Exportes nach 1989. Theoriegeschichte beugt dem Risiko vor, Theorie auf ein selbstreferentielles Sprachspiel zu reduzieren oder in ihr ein Arsenal beliebig verfügbarer Methoden zu sehen.
Diese historische Perspektive auf Theorie darf sich aber in den Routinen der Historisierung nicht erschöpfen, sondern muss als Problem und eigene theoretische Aufgabe wahrgenommen werden: Historisierung von Theorie ist produktiv für die Theoretisierung von Historie. Das zeigt sich an den konkreten methodischen Herausforderungen, etwa dem Umstand, dass die Geschichte moderner Theoriebildung jenseits von Fachgeschichten geschrieben werden muss oder dass Theoriegeschichte immer Gefahr läuft, ihren Gegenstand zu unterbieten. Besonders chancenreich ist die Auseinandersetzung mit den Formen von Theorie, ihren Rhetoriken und Metaphern, Denkstilen, Argumentationsverfahren und Genres sowie den Praktiken und Medien theoretischer Arbeit. Dabei rückt Theorie noch näher an jene kulturellen Formen wie die Literatur und die bildenden Künste, die seit dem 18. Jahrhundert bevorzugte Gegenstände von Theoriebildung waren und gelegentlich auch ihr Medium.
Die Forschungen des ZfL zur »Theoriegeschichte« versuchen auf innovative und undogmatische Weise verschiedene Ansätze – darunter Diskurs-, Wissens- und Begriffsgeschichte, intellectual history, Philologie und Archivwissenschaft – zu verbinden und ihre jeweiligen analytischen Potentiale zu erproben. Sie schließen damit an langjährige interdisziplinäre Forschungen des ZfL zur Ersten Kulturwissenschaft, zu den Wissensgeschichten der Philologie, der Religionen, der Kunstwissenschaften, zur Begriffsgeschichte und zur Editorik an.
Laufende Forschungsprojekte
Abgeschlossene und ehemals in diesem Programmbereich bearbeitete Projekte
(Auswahl, chronologisch absteigend sortiert nach Beendigungsjahr)
- Die Bedeutung der Dialektik bei Ruy Fausto 2024
- Kreativität und Berechnung: eine Geschichte des mathematischen Erhabenen 2023–2024
- Der Sinn der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft. Eine Analyse von Ritters Kompensationstheorie 2023
- Krise, Kritik, Regieren: Theorie- und Begriffsgeschichte des Liberalismus 2022–2023
- Die Einverleibung der Innovation. Theorie- und Literaturwissenschaftsgeschichte eines Strukturmoments (1870/1970) 2021–2023
- Erforschung des Carlo-Barck-Archivs. Außereuropäische Bezüge in der Konzeption der »Ästhetischen Grundbegriffe« 2021–2023
- Erlösung im Zurück 2020–2023
- Der mächtige Hasser: Martin Luthers Reformationen von Rhetorik und Affekt 2022
- Lazar Gulkowitsch: Schriften zur Begriffsgeschichte (Edition) 2018–2022
- Theory in Translation. Französische Theorie in Ostmitteleuropa (1960–2000) 2022
- Psychologismus. Geschichte eines Verdachts im literarischen Feld des frühen 20. Jahrhunderts 2020–2022 Dissertationsprojekt
- Kommentierte Auswahl-Edition des Briefwechsels zwischen Ernst und Gretha Jünger (1922–1960) 2020–2021
- Schematismus: Poetiken auf dem Weg zu Kant, 1760–1790 2020–2021
- Aby Warburg und die Religionskulturen 2018–2020
- Walter Benjamins publizistische Netzwerke 2019–2020
- Katastrophe im europäischen Denken des 20. Jahrhunderts. Eine kritische Begriffsgeschichte 2019–2020
- Der deutsch-jüdische Paulus 2019–2020
- Korrespondenz und Nachleben. Das Briefarchiv Ernst Jüngers 2015–2020
- Vagantenweisheit. Goethes Schaffen im Licht der Revolution 2019–2020
- Die journalistische Form der Theorie. Die Zeitschrift »alternative« (1958–1982) 2017–2019 Dissertationsprojekt
- Genealogien philologischer Denkfiguren. Divination und organologisches Textverständnis 2019
- Hans Blumenbergs Variationen auf das Ende der Theorie 2019
- Reden über Lyrik 2016–2019 Dissertationsprojekt
- Samuel Becketts Fernsehspiele für den SDR. Produktionsmittel, literarische Gattungen und Kritische Theorie 2016–2019
- Theorie des Rückzugs 2015–2019
- Theorie und Konzept einer interdisziplinären Begriffsgeschichte erste Förderphase 2008–2013, zweite Förderphase 2014–2016, dritte Förderphase 2017–2019
- Theoriebildung im Medium von Wissenschaftskritik 2017–2019
- Walter Benjamins Konzept der Montage 2018–2019 Dissertationsprojekt
- An der Grenze des Obszönen. Realismus, Profanierung, Ästhetik 2017–2018
- Jacob Taubes im Kontext. Religionsphilosophie in Deutschland nach 1945 2014–2018
- Poetik der Pathosformel. Beitrag zu einer kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft 2015–2018
- Das unstimmige Gesamtkunstwerk. Wagner-Inszenierungen zwischen künstlerischem Handwerk und ästhetischer Ideologie 2015–2017
- Deutsch als Sprache der Geisteswissenschaften um 1800 2014–2016
- Erzählen ohne Ende? Zur deutschsprachigen Literatur und Literaturwissenschaft nach 1945 2015–2016
- Poetologie und jüdische Philosophie. Gershom Scholem-Edition 2014–2016
- Sprachkritik als Moralkritik. Das unbeanspruchte Erbe Karl Kraus’ 2014–2016
- Unverständlichkeit. Untersuchungen zur Obscuritas in der antiken Rhetorik und in der modernen Literatur und Philosophie (1870–1970) 2015–2016
- Zeugenschaft. Ein umstrittenes Konzept, untersucht im Austausch zwischen systematischer und kulturgeschichtlicher Perspektive 2012–2016
- Briefe von und an Jacob Taubes 2008–2013